Bulgarien laufen die Schulkinder davon

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Die Schulutensilien für ihren Nachwuchs sind vielen bulgarischen Eltern zu teuer. Das unreformierte Schulsystem wird zudem zunehmend unattraktiv. Die Schulen des Landes beklagen Schülerschwund und die wachsende Konkurrenz durch Privatunterricht.

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Die Schulutensilien für ihren Nachwuchs sind vielen bulgarischen Eltern zu teuer. Das unreformierte Schulsystem wird zudem zunehmend unattraktiv. Die Schulen des Landes beklagen Schülerschwund und die wachsende Konkurrenz durch Privatunterricht.

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Borislav hat eine neue Schultasche. Groß und kantig, steht sie schon an der Außentür. Die Haare des zehnjährigen Buben sind kurz geschoren, sein Blick ist ernst. Die Mama hat für die Schule frischgewaschene Jeans und T-Shirt auf die Stuhllehne gelegt. Jetzt sitzt sie neben ihm und erzählt ausführlich darüber, wie froh sie über die Hilfsbereitschaft der Mitbürger sei, die die Tasche gespendet haben.

Borislavs Vater ist gestorben und die Mutter hat einen kleinen Job im Handel. Mit dem Verdienst schafft sie es nicht immer, für den Strom und das Telefon rechtzeitig aufzukommen. Es häufen sich kleine Schulden, besonders in der Jahreszeit, in der geheizt werden muss. Obwohl der Ranzen des Buben schon ganz zerschlissen war, ließ das Familienbudget nicht zu, einen neuen zu kaufen. Schulstartgeld gibt es nicht.

Die Verteilung dieser Hilfe ist in Bulgarien sehr eingeschränkt: nur für Familien mit äußerst schwierigen finanziellen Verhältnissen und nur in der ersten Klasse. Die Variante war also, eine Tasche von einem Nachbarkind auszuborgen. Borislav weigerte sich, erzählt die Mutter.

Auf der Bildungsstrecke geblieben

Ein Blumenstrauß auf dem kleinen Tisch schmückt nun festlich das kleine Wohnzimmer mit den alten Tapeten und den Kuscheltieren in den beiden Ecken des Sofas, wo Mutter und Sohn sitzen. Es sind bunte Astern aus dem Garten der Großmutter. "Bogoroditschki" heißen sie auf Bulgarisch, was "Marias Blumen" bedeutet. Ihr Name deutet auf Mariä Geburt, weil sie um das Christfest, wann auch die Schule beginnt, blühen. Am nächsten Tag soll Borislav seiner Klassenlehrerin die Astern schenken und sie zum Schuljahr begrüßen. So ist es Tradition in Bulgarien.

"Zu meiner Zeiten hatten die Klassen über 30 Schüler. So viele Blumen bekamen die Lehrerinnen, dass sie sie kaum nach Hause tragen konnten - es sind ja fast nur Frauen in diesem Beruf. Jetzt sind die Blumensträuße in den Händen der Lehrerinnen weniger", sagt Violeta Todorova, die Mutter von Borislav. Vor Aufregung verspricht sie sich, lächelt verlegen und erzählt dann weiter, von früher.

Spendenaktionen zugunsten Bedürftiger sind etwas Seltenes in Bulgarien. Besonders in kleineren Städten wie dem südlich gelegenen Dimitrovgrad, wo Borislav mit seiner Mutter wohnt.

Dabei ist das Anliegen der Aktivisten des Vereins "Aktive Jugend" von zentraler Bedeutung für die ganze Gesellschaft: Unterstützung von jungen Menschen, die aus finanziellen Gründen auf der Bildungsstrecke bleiben. Deren Zahl ist nicht gering: 23 Prozent. Die meisten davon sind arme Romakinder und -jugendliche von der Hauptschule.

Und da wie üblich "arm" auf "Roma" reduziert wird, wird die ganze Debatte um die Schulabbrecher kleingeredet oder ignoriert.

Doch nicht nur den Armen, auch den Eltern vom Mittelstand bereitet die Schule finanzielle Sorgen. Jeden September kosten Schulsachen und Kleidung mehr als die Hälfte eines Durchschnittsverdienstes. Die Schnellkredite steigen vor dem Schulbeginn mit rund 7 Prozent.

Bulgarien fehlen deshalb nicht nur Schüler in der Hauptschule. In dutzenden kleinen Orten hat heuer die Glocke keine Schulanfänger begrüßt, weil sie weit weg von zu Hause zu lesen und rechnen begannen. Das sind die Kinder der Arbeitsmigranten, 13.000 an der Zahl, soviel wie Eisenstadt Einwohner hat. Übertragen auf Bulgarien ist es ein ernstes Problem.

Die ausgewanderten Kinder wären die künftigen Ärzte, Wissenschaftler und Pfleger, die ihre Heimatorte schon jetzt brauchen. Sie drücken nun woanders die Schulbänke. In London etwa oder in Wien, wie es es bei Sebastian der Fall ist.

Die künftige Elite

Er ist sieben, geht in die zweite Klasse der Volksschule in der Gaullachergasse und ist der Klassenbeste. Parallel dazu besucht er die bulgarische Samstagsschule am Kühnplatz.

Seine Lehrerin dort heißt Krassimira Scharf. Streng ist sie, das sieht man ihr sofort an. Und gütig. "Die Kinder, die zu mir kommen, sind ganz tüchtig. Künftige Elite," sagt sie stolz. Der Rückgang der Schüler in Bulgarien macht sie traurig. Immerhin ist sie froh, die bulgarische Sprache im Ausland fördern zu können.

Einfach ist es für die bulgarischen Schulkinder in Wien nicht. Am Wochenende, wenn ihre österreichischen Klassenfreunde spielen, müssen sie sich die kyrilische Schrift eintrichtern lassen.

"Für mich ist sehr wichtig, dass er seine Muttersprache auch schriftlich beherrscht", meint Ivanka Dimitrova, die Mutter von Sebastian. "Wir sind Wirtschaftsemigranten. Das zentrale Motiv für die Auswanderung war jedoch ein anderes: Wir waren skeptisch darüber, ob unsere Kinder das Richtige in der Schule in Bulgarien unterrichtet bekommen. Mit Privatunterricht ausgleichen -wie alle es tun -dazu hatten wir leider kein Geld. Für die ganze Nation sind die Perspektiven für Kinder nämlich zur Privatsache geworden, weil der Staat sich nicht mehr darum kümmert."

"Bildung ist immer mit Geld verbunden und Geld für das staatliche Schulsystem in einem Transformationsland sicherzustellen ist schwierig", erklärt Maria Itscheva, eine Bildungsexpertin. "Es sind jedoch nicht nur die finanziellen Probleme, die die Bildung in Bulgarien begraben. Es sind auch die falschen Anreize. Die Finanzierung funktioniert nach dem Prinzip "Das Geld folgt den Schülern".

Ressourcenvergeudung

Dadurch werden viele Ressourcen und Talente verschleudert. Die Schulen wiederum wissen sich nicht anders zu helfen, als einfach Phantom-Schüler als Platzhalter anzumelden. Durch die Falschangaben versuchen Schulleiter die knappen Lehrstellen und die Schulen selbst zu retten. Noch entscheidender für den kläglichen Stand der Bildung in Bulgarien sind jedoch die sporadischen Reformen ohne Konzept. Sie brachten Chaos in die Schule, ohne sie wirklich zu modernisieren."

Und so bleibt alles beim Alten: Nach der Wende hat sich weder etwas am autoritären Frontalunterricht geändert, noch am Stil, in dem die Schulbücher verfasst sind - genau wie früher sind sie heute im Stil zu abgehoben und zu akademisch. Mit dem Unterschied, dass diese Eigenschaften im Sozialismus Zeichen der Leitkultur waren und heute Zeichen von der Distanz. Wer diese Distanz verringern möchte, versucht es also mit homeschooling. Oder packt auch den Koffer Richtung Westen.

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