Das Ablaufdatum überschritten

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Vollbeschäftigung sei in zwei Jahren möglich. Diesen Paukenschlag ließ Schüssel zu Neujahr ertönen. Ob die Ankündigung mit dem Orchester abgestimmt ist, oder einen Schlag ins Leere darstellt, versucht ein Rundruf bei Wirtschafts- und Arbeitsmarktexperten herauszufinden.

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Vollbeschäftigung sei in zwei Jahren möglich. Diesen Paukenschlag ließ Schüssel zu Neujahr ertönen. Ob die Ankündigung mit dem Orchester abgestimmt ist, oder einen Schlag ins Leere darstellt, versucht ein Rundruf bei Wirtschafts- und Arbeitsmarktexperten herauszufinden.

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Übergangszeiten werden von Unsicherheiten und Ängsten begleitet. So auch jetzt wieder, wenn kollektive Lebensmuster, Sozial- und Nationalstaat mehr und mehr Individualisierung und Globalisierung Platz machen müssen. Allen Unsicherheiten zum Trotz verkündete Bundeskanzler Wolfgang Schüssel am Neujahrstag 2001, dass Vollbeschäftigung für das Land in den nächsten zwei Jahren möglich sein werde. Vollbeschäftigung - heißt das, der Spuk vom arbeitslosen Europa ist wieder vorüber, und die Arbeitslosigkeit, jene "Geisel der modernen Menschheit" (Sozialhirtenbrief), erfolgreich gezähmt?

Der Blick in das Pressearchiv scheint die Zielvorgabe des Kanzlers zu bestätigen. Italiens Regierungschef, Giuliano Amato, sieht das Ziel Vollbeschäftigung "in greifbare Nähe gerückt". Detto in Frankreich, wo für Premier Lionel Jospin, Vollbeschäftigungsträume keine "nostalgischen Erinnerungen" mehr sind. Und auch in Deutschland regten sich zum Jahreswechsel Stimmen, die Vollbeschäftigung bis 2005 prognostizierten. Österreichs Kanzler im europäischen Mainstream? Hat er es geschafft, das Thema schneller als die Konkurrenz zu erkennen und mit dem eigenen Logo zu besetzen? Dem Beobachter kann es Recht sein, sollte Schüssel die Lorbeeren einheimsen, wenn nur der Kanzler mit seiner Ankündigung Recht hat. Hat er aber Recht?

Die jüngst publizierten Arbeitslosenzahlen scheinen Schüssel zu bestätigen. Mit 217.136 Jobsuchenden ist die Arbeitslosigkeit in Österreich Ende Dezember 2000 deutlich unter das Vorjahrsniveau gesunken. Die nationale Arbeitslosenquote sank auf 6,5 Prozent. Im Dezember 1999 waren es noch 7,3 Prozent gewesen. Die nach EU-Kriterien ermittelte Arbeitslosenquote ging in Österreich von 3,6 Prozent (Dezember 1999) auf 3, 1 Prozent im Dezember letzten Jahres zurück. Vom Rückgang der Arbeitslosigkeit waren nach Angaben des Arbeitsmarkservice (AMS) Österreich alle Regionen und alle Bundesländer betroffen. Für Herbert Buchinger, AMS-Österreich-Vorstand, ist die Schüssel Prognose dann "realistisch", wenn Vollbeschäftigung unter drei Prozent Arbeitslosigkeit bedeutet und - entscheidend - wenn die "Eurostat"-Methode herangezogen wird.

Bei dieser EU-Methode wird in einer Umfrage erhoben, wer eine Woche vor der Befragung zumindest eine Stunde lang gearbeitet hat. Langzeitarbeitslose, Leute, die resigniert haben und keine ernsthaften Anstrengungen mehr unternehmen, einen Job zu bekommen, scheinen in dieser Statistik jedoch nicht auf. Beides zusammen ergibt einen niedrigeren Wert als die nach österreichischer Methode erhobene Arbeitslosenquote, die alle beim AMS registrierten Arbeitslosen berücksichtigt.

Nicht vergleichbar Bis 2004 muss die gute Konjunkturlage noch andauern, um Vollbeschäftigung (laut Eurostat!) zu erlangen, meint Buchinger gegenüber der furche. Ab 2004 wird die Arbeitsplatzsituation durch die Demographie - sprich geburtenschwache Jahrgänge - entschärft. Auch Erwin Buchinger, Geschäftsführer des AMS-Salzburg sieht die Schüssel-Ansage für sein Bundesland als "sehr realistische Perspektive". Mit der Vollbeschäftigung wie sie in den 60er- und 70er-Jahren für Österreich gegolten hat, lässt sich die jetzige Situation aber nicht vergleichen. Damals war durch die großteils vorhandenen Normalarbeitsverhältnisse eine Art statische Vollbeschäftigung gegeben. Vollbeschäftigung-neu bedeutet heute ein sehr dynamisches Konzept, bedingt durch den Wechsel zwischen guten und schlechten Einkommen, zwischen Voll- und Teilzeitjobs. Erwin Buchinger: "Doch immer noch besser eine dynamische Vollbeschäftigung als gar keine."

"Sehr überrascht", sei er und mit ihm andere Kollegen über die Meldung Schüssels gewesen, gibt hingegen der Grazer Professor für Volkswirtschaftslehre, Stefan Schleicher, zu. Schwer verständlich sei die Schüssel-Aussage überdies. Der Kanzler habe nicht gesagt, welches Berechnungsschema er seiner Annahme zugrunde legt, bemängelt Schleicher und fragt, wie der Kanzler Vollbeschäftigung definiert, in einer Zeit, in der Normalarbeitsverhältnisse, Achtstundentag und feste Verträge keinesfalls mehr selbstverständlich sind? Sollte Schüssel Vollbeschäftigung wie eh und je verwenden, dann hat der Kanzler einen Begriff hervorgeholt, der sein "Ablaufdatum schon lange erreicht hat", ist der Grazer Volkswirt überzeugt.

Weniger streng geht Wifo-Ökonom Stephan Schulmeister mit dem Kanzler ins Gericht. Was die Quantität der Arbeitslosen betrifft, ist es sicher zulässig, den Begriff Vollbeschäftigung zu verwenden, meint Schulmeister. Zur Quantität gehöre jedoch ein zweiter Gesichtspunkt, die Qualität der Arbeitsplätze, hinzugefügt. Und die Qualität habe tendenziell abgenommen, meint der Wirtschaftsforscher. "Vor allem in jenen Bereichen, in denen jetzt die meisten Jobs entstanden sind."

Schulmeister war in der 1997 vom damaligen Vizekanzler Schüssel initiierten Denkwerkstatt "Österreich Zukunftsreich" Leiter des Arbeitskreises "Arbeit für alle". Insgesamt arbeiteten dabei rund 450 der besten Wissenschaftler, Künstler und Praktiker des Landes an Visionen, Ideen und Konzepten für die Zukunft Österreichs. Heute danach befragt, wie sehr er das damals erarbeitete Programm jetzt verwirklicht sehe, erklärt Schulmeister, dass er "keinen wirklichen Fortschritt" erkennen kann. Die positiven Zeichen am Arbeitsmarkt seien nicht durch die österreichische Wirtschaftspolitik im Speziellen, sondern durch die generell gute Konjunkturlage verursacht.

Zu politikerfreundlich Gerhard Walther, er lehrt an der Wirtschaftsuniversität Wien in der Abteilung für Arbeitsmarkttheorie, war ebenfalls im "Arbeit für alle"-Arbeitskreis engagiert. Und auch Walther sieht von den vielen Aspekten, die bei Zukunftsreich vorgeschlagen wurden, "sehr wenig, bis überhaupt gar nichts in die heutige Regierungspolitik einfließen". Österreichs Bundesregierung leistet nach wie vor nicht viel an langfristig orientierter Arbeitsmarktpolitik, vor allem was die Ausbildungspolitik betrifft, kritisiert Walther. Die EU-Messmethode nennt der Arbeitsmarktspezialist problematisch, da sie zu politiker- beziehungsweise regierungsfreundlich ist. Weiters komme die Verschlechterung der Arbeitsplatzqualität bei den angeführten Indikatoren in keinster Weise zum Ausdruck, moniert Walther. Und es sei durchgängig festzustellen, dass für politische Zwecke genutzte Statistiken nach und nach manipuliert und schließlich ganz zerstört werden.

Statistische Tricks Von "statistischen Tricks" und "Zahlenspielerei" spricht der Sozialpolitikexperte Emmerich Talos nach seiner Qualifizierung der Schüssel-Aussage befragt. Talos wirft dem Kanzler vor, dieser betreibe mit seiner Vollbeschäftigungs-Ansage Entproblematisierung: "Und wer Probleme nicht sieht, der macht keine Politik dagegen." Talos verweist wie schon Buchinger auf die Vielzahl atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse, die zwar einen Arbeitsplatz bieten, jedoch nur geringes und diskontinuierliches Einkommen. Überspitzt formuliert Talos, könnte ja auch von Vollbeschäftigung die Rede sein, wenn alle Leute nur geringfügig beschäftigt sind.

"Menschen gehen einer Tätigkeit nach", mehr Aussagekraft hat der Begriff Vollbeschäftigung auch für Wifo-Arbeitsmarktexpertin Gudrun Biffl nicht. Die entscheidende Frage aber, ob ein Mensch, eine Familie von dieser Tätigkeit leben kann, beantwortet der Begriff nicht. Die Erosion der Normalarbeitsverhältnisse bringt mit sich, dass die soziale Absicherung zumindest in Übergangsphasen nicht mehr gewährleistet ist, klagt Biffl und fordert, Österreichs gegenwärtiges noch auf "bourgeoise Voraussetzungen" beruhende Sozialsystem gehöre überdacht, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden. Eine Diskussion um den Begriff Grundsicherung wäre dabei angebrachter als die missverständliche Rede von der Vollbeschäftigung.

Zu Schüssels Neujahrsvorsatz kann zusammenfassend nur bedingt das gesagt werden, was Oscar Wilde über Vorsätze generell meinte: "Sie sind Schecks, auf eine Bank gezogen, bei der man kein Konto hat." Schüssels Vollbeschäftigungs-Scheck lässt sich einlösen. Das ist gut so. Dringlicher wäre jetzt aber an Schecks zu denken, die nicht durch die internationale Konjunktur oder Demographie gedeckt sind. Armut und Unsicherheit trotz Arbeit bietet sich da als ein wichtiges Betätigungsfeld an.

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