"das Hier Ist Kriminalität"

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Gott gibt es nicht. Und wenn, ist er sehr abgelenkt", ist Gilberto Salmoni überzeugt, der von seinem (Über-)Leben nach dem Transitlager Fossoli im emilianischen Carpi und dem deutschen Konzentrationslager Buchenwald zu erzählen beginnt, noch bevor er sich zum Interview niederlässt. Gefasst sitzt er in einem Korbsessel in seiner Wohnung im ligurischen Genua, wo er 1928 als Sohn jüdischer Eltern geboren wurde.

Seine Mutter, in Vorahnung des aufkeimenden Faschismus, hatte ihn im Alter von zehn Jahren noch zur Taufe zu einem Pfarrer gebracht, doch das half ihm auch nicht, als die Familie bei ihrer Flucht aus Italien an der Schweizer Grenze verhaftet wurde und sie als "politische" Gefangene deportiert wurden. Mutter, Vater und Schwester wurden in Auschwitz ermordet.

Salmonis Hände rutschen auf den Lehnen seines Sessels unentwegt auf und ab und oft bricht seine Stimme, wenn der vormalige Ingenieur und nunmehrige Psychologe das kollektive Erinnern der Shoah in Italien analysiert. Er ist empört, als das Gespräch auf abgewiesene Flüchtlingsboote an der italienischen Küste und mangelnde Solidarität kommt und artikuliert seine Meinung zur italienischen Politik eindeutig: "Io odio Matteo Salvini!" Er steht für eine "totale Offenheit" ein und wäre jederzeit bereit, eine geflüchtete Person in seiner Wohnung aufzunehmen. Ein Gespräch über die Vergangenheit und Gegenwart Italiens.

DIE FURCHE: Was wiegt die Erinnerung? Was bedeuten heute Zeitzeugen für eine Einzelperson oder das kollektive Gedächtnis?

Gilberto Salmoni: Das ist schwer zu sagen im Hinblick auf das kollektive Gedächtnis. Als geborener Jude und Mitglied der jüdischen Gemeinschaft in Genua fühle ich - obwohl ich keine Zeremonien besuche - die Verpflichtung, dorthin zu gehen, wohin man mich einlädt, um über die Zeit im KZ zu sprechen. Ich bin recht bekannt und werde häufig außerhalb Genuas von Schulen eingeladen, manchmal auch anlässlich des Gedenktages. Heute Morgen habe ich eine Einladung des Museums der Resistenza in der Toskana bekommen.

DIE FURCHE: Hat nun die Erinnerung ein Gewicht?

Salmoni: Darum geht es gar nicht, ob sie Gewicht hat oder nicht. Es gibt Dinge, die müssen einfach erzählt werden, um den Menschen zu erklären, ihnen eine politische Bildung zu geben. Man kann sich nicht vom Erstbesten regieren lassen und dann das glauben, was er sagt. Heutzutage haben wir zum Glück viele verschiedene Stimmen. Man kann immer für sich entscheiden: Der ist ein Krimineller, der andere ist gut obwohl, von denen gibt es nicht viele.

DIE FURCHE: In Ihrem Berufsleben haben Sie nicht nur als Ingenieur gearbeitet, sondern auch als Psychologe. Warum?

Salmoni: Ich wollte schon immer Psychologe werden, aber zu meiner Zeit gab es Psychologie als Studienfach noch nicht. Mein Bruder war damals schon Arzt und es gab wenig Arbeit, daher entschied ich mich, Ingenieurswesen zu studieren. Ich habe dann viele Jahre lang als Ingenieur gearbeitet, später auch Psychologie im Fernstudium belegt und mich auf Familientherapie spezialisiert und in diesem Fach auch gearbeitet.

DIE FURCHE: Stand Ihre Wahl, Psychologe zu werden, im Zusammenhang mit Ihren Erlebnissen in Buchenwald?

Salmoni: Ja, in einem gewissen Sinne schon. Der psychologische Mechanismus wurde einem recht klar, wenn es einen gibt, der befiehlt wie Mussolini und ihm die Leute nachlaufen.

DIE FURCHE: Wenn Sie als Psychologe dem Zustand des italienischen kollektiven Gedächtnisses des Faschismus und Holocausts eine Diagnose geben würden, wie würde diese dann lauten?

Salmoni: Das kann man nicht als Psychologe. Die Psychologie hat hier wenig mitzutun, höchstens peripher. Als die Regimes damals die Macht ergriffen haben, waren sie sehr brutal zu ihren Gegenübern. Bis zu einem gewissen Punkt ist es klar, dass sich die Menschen damals betrügen ließen, der Friede nach dem Ersten Weltkrieg war in Wirklichkeit ein dummer Friede. Der Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg war eine durch und durch intelligentere Lösung. Was mir Angst macht, nicht als Psychologe, sondern als Mensch, ist, dass Hitlers Pläne nicht erkannt wurden, die dann in der Invasion von Polen kulminierten. In Italien hingegen wurde der Antifaschismus mit der Zeit sehr stark, es gab viele Partisanen und Partisaninnen.

DIE FURCHE: Interessieren sich denn heute die Italiener für die Vergangenheit ihres Landes?

Salmoni: Nein, tun sie nicht. Hier in Italien haben wir mit der aktuellen politischen Situation teilweise Glück gehabt, wohingegen die Lage in Österreich und Ungarn einen ganz unruhig werden lässt. Auch in Deutschland hat die neonazistische Bewegung immer mehr Zulauf. In Italien gibt es Demokratie, obwohl die jetzige Demokratie hässlich, ein wenig komisch ist. Salvini kann leider gut reden, de Maio weniger. Die 5-Sterne-Bewegung wird nicht mehr so viele Stimmen bekommen, vielleicht eher die Lega. Jetzt kommt auch Berlusconi wieder, der ist zumindest kein Mörder.

DIE FURCHE: Die Erinnerung an Ihre Vergangenheit wiegt schwer. Haben Sie sich jemals gewünscht, das alles zu vergessen?

Salmoni: Nein, nein. Ich wollte nie vergessen, absolut nicht. Ich habe kürzlich das Buch von Liliana Segre gelesen, die als junge Erwachsene in Auschwitz war (italienische Auschwitz-Überlebende, die kürzlich zur Senatorin auf Lebenszeit im italienischen Parlament ernannt wurde, Anm. d. Red.). Es handelt sich um eine Erinnerung, die man als Bereicherung der Persönlichkeit bewahrt. Eine Erfahrung, die ich sicherlich nicht vergessen werde. Ich habe aber auch kürzlich Überlebende bei einer Versammlung in Mailand getroffen, die diese Erfahrung vergessen wollen. Mich verbindet Freundschaft mit anderen Buchenwald-Überlebenden. Wir sind nur noch fünf, von denen einer nun in Israel lebt.

DIE FURCHE: Wenn wir für jemanden Empathie empfinden, der Opfer oder Überlebender eines tragischen Ereignisses ist, dann ist das ein wertvolles Empfinden, das uns menschlich macht und das uns hilft, dem Nächsten helfen zu wollen. In den letzten Monaten schien es, als würden Schiffe mit geretteten Bootsflüchtlingen eine Odyssee mitmachen müssen. Es scheint, als hätte sich die Distanz zwischen dem "wir" und den "anderen" drastisch vergrößert. Gibt es denn aus Ihrer Sicht Möglichkeiten, diese allgemeine Gleichgültigkeit zu heilen?

Salmoni: Es ist nicht so, dass die Distanz zwischen uns und dem anderen größer geworden ist, sondern die Distanz besteht aufgrund von Matteo Salvini. Für ihn ist sie ein politisches Leitbild geworden, um mehr Stimmen zu bekommen. Man kann ja sagen, dass man nicht so viele aufnehmen kann, seien es Hunderttausende oder eine oder zwei Millionen. Es geht nicht darum, hundert Personen abzuweisen. Das hier ist Kriminalität. Es gibt keine Gesetze dazu, aber Salvini müsste man einsperren. Hätte ich eine eigene Legislative, würde ich ihn ins Gefängnis stecken. Das geht jedoch nicht, weil es die Demokratie gibt und jeder seine Meinung kundtun kann. Seine Meinung ist sehr gefährlich, aber es gibt zum Glück Menschen, die dagegenhalten. Doch ist Salvini nun einmal zum Innenminister gewählt worden So ein Mist

Der Präsident der italienischen Republik, Sergio Mattarella, eine Person, die ich sehr schätze, hat recht daran getan, Segre als Senatorin auf Lebenszeit zu nominieren. Sie ist wie eine Beschützerin Italiens, die Salvini nicht erlaubt, alles zu tun. Ich verstehe die Politik nicht mehr: Der Partito Democratico hat die 5-Sterne-Bewegung gefragt, eine Regierung zu bilden. Die Lega hat sich gezeigt, wie sie nun einmal ist.

DIE FURCHE: Die Wahrung der Menschenwürde scheint nicht mehr als Norm zu gelten. Was bedeutet Menschenwürde für Sie?

Salmoni: Es bedeutet, dass ein Mensch wie ein Mensch behandelt werden muss. Natürlich besteht die Schwierigkeit in der Kommunikation. Auch wenn man zur Zeichensprache zurückkehren würde, würde man nicht erkennen, ob einer ein Böser ist oder nicht. Ich bin daher imstande, den Einzelnen selbst zu beurteilen und zu entscheiden, ob ich dieser Person helfen soll oder ob sie mich umbringen oder betrügen will. Ich habe diese Ängste nicht. Normalerweise muss man den Personen, die bei uns ankommen, helfen. Daran habe ich keinen Zweifel.

DIE FURCHE: Wir wissen, dass Sprache unser Bewusstsein formt. Wieviele Schritte fehlen dann noch zur aktiven Handlung?

Salmoni: Bereits ein klarer Gedanke ist schon viel wert. Das kann aber ein Gedanke sein, den ich nicht teile. Ich fühle mich als Einzelner sicher in der Umgebung der Menschen, die ich kenne. Wir müssen bereit sein zu helfen, uns zu organisieren. In manchen Ländern gibt es eben mehr Flüchtlinge, in Italien dagegen weniger. Ich sehe doch, wie die Dinge stehen: wenn ich nach Deutschland fahre oder wenn ich bemerke, dass in Österreich gewisse Dinge besser organisiert sind. Diese Versuche gibt es auch in Italien, aber trotzdem ist es hier anders. Es geht hier nicht um Angst, sondern um eine Gruppe von Personen, die eine ähnliche Vorstellung von Hilfe für Andere haben und auch vor Ort helfen.

DIE FURCHE: Was ist ein effektiver Widerstand? Was können wir heute von der italienischen Resistenza von damals lernen?

Salmoni: Der Faschismus damals war als Diktatur relativ weich. Er war somit kritisierbar. Es gab einige wenige dumme Slogans wie "Glauben, gehorchen, kämpfen!", die an sich schon eine Dummheit waren, aber eben von Mussolini angewendet wurden. Die Kinder ließ man diese Sachen wiederholen, die in mir immer Abneigung hervorriefen. Ich war damals zwölf und es überzeugte mich einfach nicht. Doch es gab Menschen, die diese Worte überzeugten. Wir brauchen Menschen, die die Fähigkeit oder das Alter haben, einem die Augen zu öffnen, doch die gibt es manchmal einfach nicht.

DIE FURCHE: In der Schlussfolgerung Ihrer Memoiren "Eine Geschichte in der Geschichte" stellen Sie Fragen, wie der Holocaust passieren und wie die Aufmerksamkeit für das, was geschah, fehlen konnte. Ist es Ihnen mittlerweile gelungen, eine Antwort darauf zu finden?

Salmoni: Ich will auf diese Frage anders antworten: Nach den ersten Bombardements auf Genua gab es keine Ruhe mehr. Ich lebte damals im Zentrum, in der Nähe eines Tunnels, der den sichersten Zufluchtsort bot. Wir flüchteten in den Keller, als der Alarm kam und wir nicht mehr rechtzeitig das Haus verlassen konnten. Da erst machte sich eine Unzufriedenheit bei uns breit. Wir hatten Antifaschisten als Freunde,wir kannten sie und nun wurden auch wir zu Antifaschisten. Wir waren zuvor einfach nicht kritisch gewesen -eine ganz schlechte Sache! Erst dann wurden wir kritisch.

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