"Das Kind hat es gewollt"

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Was geht in einem Menschen mit pädophiler Störung vor? Ein Psychogramm.

In der aktuellen Diskussion über den Umgang mit pädophilen Tätern werden häufig Strafverschärfungen an die erste Stelle gereiht. Jedoch nicht bei jeder Diskussionsbemerkung scheint ausreichende Sachkenntnis vorhanden zu sein.

Pädophilie ist eine sexuelle Präferenzstörung. Konkret bezeichnet sie eine sexuelle Präferenz für vor- oder frühpubertäre Kinder. Diese Präferenz zeigt sich in entsprechenden Sexualphantasien und/oder einem drängenden Bedürfnis nach sexuellen Betätigungen mit Kindern. Nicht alle Pädophilen missbrauchen tatsächlich Kinder. Von Pädophilie kann man nur sprechen, wenn der Altersunterschied zwischen Täter und Opfer mindestens 5 Jahre beträgt und wenn der Täter mindestens 16 Jahre alt ist.

Pädophilie ist keine sexuelle Orientierung wie Hetero- oder Homosexualität, wie manchmal behauptet wird. Sexuelle Orientierungen bezeichnen das Streben nach sexuellen Beziehungen bzw. Partnerschaften, die grundlegend auf einem beiderseitigen Einverständnis mit den geplanten oder durchgeführten sexuellen Aktivitäten beruhen. Dies ist bei Kindern nicht der Fall: Die Tatsache, dass die pubertäre Entwicklungsphase noch nicht erreicht oder noch nicht abgeschlossen wurde, bedeutet, dass die Art und Intensität des erwachsenen Sexualerlebens nicht vorgestellt, nicht phantasiert und daher auch nicht gewollt werden kann. Das Kind kann nicht sein Einverständnis zu etwas geben, das es sich aufgrund seiner psychischen Entwicklung nicht vorstellen kann. Es kann also kein "Sexualpartner" sein. Wird das Kind dennoch in eine sexuelle Betätigung mit einem Erwachsenen hineingezogen, kann es dieses Erleben meist nicht ausreichend verarbeiten und erleidet dadurch psychische Dauerschäden.

Hormone und Kastration

Wie bei allen chronischen psychischen Störungen, sind die Ursachen der Pädophilie multifaktoriell. Aus der Wirksamkeit von anti-hormonellen Medikamenten lässt sich ableiten, dass der Testosteronspiegel, also die Menge der männlichen Sexualhormone, meistens eine gewisse kausale Rolle spielt. Allerdings wurden auch schon pädophile Übergriffe bei erniedrigtem Testosteronspiegel nachgewiesen, weshalb diese Medikamente (die sogenannte "chemische Kastration") auch keinen sicheren Schutz gegen Rückfälle von pädophilen Tätern bieten.

Die moderne Neurobiologie konnte auch die Bedeutung bestimmter Transmitterstoffe im Gehirn für pädophile Impulse zeigen, etwa Serotonin und Dopamin. Diese Stoffe sind jedoch nicht spezifisch für die Pädophilie. Dennoch können konstitutionelle Belastungen, die sich in diesen Gehirnmechanismen ausdrücken, als Dispositionen zur Pädophilie eine Rolle spielen. Bedeutsam sind aber vor allem Störungen der frühen Bindung zu den primären Bezugspersonen, also meistens den Eltern. Solche frühen Störungen können die Ausbildung reiferer psychischer Strukturen verhindern, die Ablösung von der Mutter erschweren oder blockieren, und die Identifizierung mit einem männlichen Vorbild verunmöglichen. Dazu kommen zum Teil schwere Traumatisierungen. Untersuchungen zeigen, dass möglicherweise mehr als die Hälfte aller Pädophilen selbst als Kinder missbraucht worden ist. Die spezifische psychische Verarbeitung, die im später Pädophilen vorgeht, führt zu einer inneren, erotisierten Fixierung auf die Mutter, der er durch die pädophile Rollenumkehr, das sogenannte Selbstvertauschungsagieren, zu entkommen versucht: Im Delikt nimmt er selbst die Rolle der übermächtigen, unverständlich erotisierten Mutter ein und projiziert sein kindliches Ich in das kindliche Opfer.

Spirale der Manipulation

Eine häufig zu beobachtende Schwierigkeit besteht bei pädophilen Patienten in deren Scheinanpassung an den Therapeuten. Die Patienten finden rasch heraus, was der Therapeut von ihnen will und liefern es ihm, ohne sich innerlich zu verändern. Das ist nicht immer psychopathische Manipulation, obwohl auch das vorkommt, sondern hängt mit der Tendenz dieser Patienten zusammen, sich mit dem Bedürfnis des Gegenübers, mit dem Bedürfnis der Autorität, biografisch ursprünglich mit dem Bedürfnis der Mutter, zu identifizieren. Diese Schwierigkeit reflektiert also die nicht gelungene Ablösung vom Primärobjekt, die zu einem Verstecken und Abspalten der eigenen Interessen und Bedürfnisse führt. Genau das muss aber geändert werden, wenn eine Therapie erfolgreich sein soll.

Eine andere typische Schwierigkeit in der Psychotherapie mit Pädophilen sind die Verharmlosungen und Verdrehungen. Am häufigsten hört man irgendeine Variante der Grundaussage, das Kind habe es ja selbst gewollt. Nur in seltenen Fällen ist das eine bewusste, reine Lüge. Meistens leben die Täter mit automatisierten kognitiven Verzerrungen, d.h. sie glauben das, was sie sagen. Sie verleugnen bestimmte Tatsachen oder zumindest die emotionale Bedeutung dieser Tatsachen. Sie biegen ihre Wahrnehmungen zurecht, überbetonen die einen Elemente und lassen andere unter den Tisch fallen. Irgendwie ahnen die meisten zwar, dass sie sich da etwas vormachen, aber es dauert lange in den Therapien, bis sie das sagen und ehrlich darüber reden können.

Natürlich sind Kinder neugierig und wollen auch ihren und den Körper von anderen untersuchen. Sie sind interessiert, wie sich dieses und jenes anfühlt und können mit solchen Interessen auch sehr deutlich auf Erwachsene ihres Vertrauens zugehen. Das ist alles ganz normal und unproblematisch, solange der Erwachsene dort eine Grenze zieht, wo es um die Befriedigung seines eigenen Begehrens zu gehen beginnt. Diesen Übergang nehmen gesunde Kinder in der Regel auch ganz klar wahr und wollen es nicht. Sie sagen Nein oder ziehen sich zurück.

Sehr schwierig kann es aber bei Kindern werden, die bereits vorgeschädigt sind. Kinder, die sich von den primären Bezugspersonen im Stich gelassen und sehr einsam fühlen, beginnen unter Umständen, die Nähe von alternativen Personen zu suchen. Wenn sie aus irgendeinem Grunde vermuten, dass sie diese Nähe nur erhalten können, wenn sie sich sexuell als gefügig erweisen, dann kann es vorkommen, dass sie gewissermaßen in vorauseilendem Gehorsam dem "Onkel" seine pädophilen Wünsche von den Augen ablesen und es nur eines relativ geringen Druckes bedarf, das Kind zum Mitmachen zu veranlassen. Die verzerrte Wahrnehmung und die Verleugnungsneigung der Pädophilen hat dann leichtes Spiel, sich selbst vorzumachen, das Kind habe alles selber gewollt. Sehr häufig wird aber wesentlich mehr Druck ausgeübt, indem gesagt wird, der "Onkel" würde das Kind nicht mehr mögen, wenn es nicht mitmache, oder - im Nachhinein - der "Onkel" würde ins Gefängnis kommen, wenn es etwas ausplaudern würde, der "Onkel" würde der Mama sagen, was bereits geschehen sei, wenn das Kind nun nicht mehr weiter mitmachen wolle usw. usf.

Pädophile können sich aber selbst in diesen Fällen noch vormachen, dass ja kein Zwang ausgeübt worden sei, man sei nie gewalttätig gewesen, also sei alles freiwillig gewesen. Die Absurdität dieser Argumentationen scheint augenfällig, doch die Verleugnungsfähigkeit des Menschen ist derart gigantisch, dass er sich auch über die größten Unglaubwürdigkeiten hinweg lügen kann.

Manche Pädophile behaupten, dass sie als Kinder glücklich gewesen wären, von einem Erwachsenen in die Sexualität eingeführt zu werden. Dies ist ein konkretistisches Missverständnis: Was ihnen in Wirklichkeit gefehlt hat, war Wärme, Zuneigung und Vertrauen. Dieser Mangel war jedoch derart bedrückend, dass sie keine Fähigkeit erwarben, emotionale und psychische Bedürfnisse überhaupt gedanklich zu erfassen und innerlich zu repräsentieren. Sie haben gewissermaßen keine psychische Realität ausgebildet. Sie greifen in ihrer Verzweiflung auf den primitiveren Modus der physischen Realität zurück, und versuchen ihr Leiden und ihre Wünsche in diesem präpsychischen Modus auszudrücken.

Psychotherapie kann die Rückfälligkeit von Missbrauchstätern deutlich reduzieren, sie kann jedoch keine Garantie gegen jeden Rückfall gewährleisten. Dies können jedoch auch medikamentöse Therapien nicht, genauso wenig wie längere Gefängnisstrafen. Längere Haftzeiten allein, ohne Therapie, beugten zwar Rückfällen während der Haft vor, können aber die Rückfallsraten nach der Entlassung sogar erhöhen. Die verzweifelte Forderung nach lebenslangen Freiheitsstrafen für pädophile Missbraucher ist menschenrechtlich nicht zu verantworten und in einem Rechtsstaat nicht zu verwirklichen.

Lange Haft oder Therapie?

Man sollte die Therapiekapazitäten im Straf- und Maßnahmenvollzug sowie in der Nachbetreuung massiv ausbauen. Derzeit erhalten immer noch nicht alle Sexualstraftäter, die inhaftiert sind, eine psychotherapeutische Behandlung. Und jene, die eine Therapie bekommen, erhalten diese oft erst kurz vor der Entlassung. Zusätzlich müsste die Möglichkeit für Pädophile, in Therapie zu gehen, bevor eine Straftat gesetzt wird, großzügig ausgebaut werden. Wir haben derzeit nur wenige solche Plätze, weshalb damit auch nicht groß in die Öffentlichkeit gegangen wird.

Es bleiben daher nach wie vor hunderte Pädophile in Wien unbehandelt, obwohl sie sich möglicherweise einer Therapie unterziehen würden, bevor sie erstmals ein Kind missbrauchen. Die Aufbringung dieser Mittel sollte das Thema der öffentlichen Debatte sein, nicht die Frage, ob man die Pädophilen lebenslang einsperren oder gleich kastrieren soll.

Der Autor ist Psychoanalytiker und psychotherapeutischer Leiter des Forensisch Therapeutischen Zentrums Wien und arbeitet seit 22 Jahren mit pädophilen Männern.

Dunkelziffern

Nach Schätzungen wird jedes vierte Mädchen und jeder achte Bub bis 16 Jahren Opfer von sexueller Gewalt. Angezeigt wird nur ein Bruchteil der Fälle (691 Fälle 2007). Pädophile sind nur eine Tätergruppe. Der sexuelle Missbrauch wird bei Mädchen bis zu 98 Prozent von Männern verübt, bei Buben bis zu 90 Prozent. Pädophilie ist bei Frauen extrem selten, bei von Frauen verübtem sexuellen Missbrauch liegen meist andere Störungen zugrunde. Nur sechs bis 15 Prozent aller Täter sind für das Opfer Unbekannte. bog

Anlaufstellen:

Für Opfer von sexuellem Missbrauch: www.die-moewe.at

Für (mögliche) Täter:

www.ftzw.at

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