Das kleine schmutzige Geheimnis

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Warum macht das Schmutzige Angst und wie geht der Mensch mit Erfahrungen um, die er lieber loswerden möchte? Die Wiener Psychoanalytikerin Marianne Springer-Kremser über das Verdrängen und warum es so etwas wie "Abfälle der Psyche" nicht gibt.

Mit einer zugespitzen These räumt Marianne Springer-Kremser gleich auf: "Es gibt keine psychischen Abfälle." Auch wenn sich so mancher schon dabei ertappt hat, dass er unliebsame Erfahrungen am liebsten aus der Erinnerung streichen wollte.

Die Furche: Frau Professor, was sind Ihre unmittelbaren Assoziationen mit Müll oder Abfall?

Marianne Springer-Kremser: Unverdaubare, unbenutzbare Speisereste, die ich wegwerfe, zuerst in den Abfalleimer in der Küche, dann in den von der städtischen Müllabfuhr zur Verfügung gestellten Container gebe.

Die Furche: Gibt es eigentlich so etwas wie (gewollten) psychischen "Müll" oder Abfallprodukte als Symbol bzw. als übertragener Begriff für Dinge, die man vergessen oder verdrängen will?

Springer-Kremser: Nein, es gibt keinen psychischen Müll. Es gibt psychische Inhalte, die entweder bewusst oder unbewusst sind. Bei den bewussten gibt es solche Inhalte, die eine Person mit dem Bild, das sie von sich selber hat, als kompatibel einschätzt oder als inkompatibel, also als etwas, womit man nichts zu tun haben möchte. Das können Einstellungen, Fantasien, Gegebenheiten sein. Das Problem ist, dass viele Inhalte, mit denen man nichts zu tun haben will, das nicht so sehen und uns aus dem Unbewussten her quälen.

Die Furche: Und wie gehen die Menschen damit um?

Springer-Kremser: Alles, was vom Unbewussten ins Bewusstsein drängt, sendet ein Signal aus: Achtung Gefahr. Und auf diese Bedrohung reagiert man mit Angst. Bevor die Inhalte ins Bewusstsein kommen, kommt die Angst, und mit dieser gehen Menschen unterschiedlich um. Manche tolerieren ein bestimmtes Ausmaß an Angst, bei manchen ist die Toleranz gering, und bei anderen wiederum wird der Affekt Angst zu einem Symptom. Alle Affekte haben eine pathoplastische Funktion, das heißt, sie können Krankheitsbilder erzeugen. Bezogen auf Schmutz und auf das, was schmutzig sein kann oder unberührbar, gibt es neben der Angst noch andere Wege damit umzugehen, das sind Abwehrmechanismen. Abwehrmechanismen sind Leistungen der bewussten Person, des Ich, die uns helfen, uns nicht mit peinlichen Inhalten auseinandersetzen zu müssen, wie zum Beispiel durch Isolation.

Die Furche: Was bedeutet das?

Springer-Kremser: Man isoliert einen begleitenden Affekt, wie zum Beispiel Schuld oder Scham. Patienten beispielsweise, die unglaubliche Probleme haben, mit Schmutz in Berührung zu kommen, erinnern sich sehr gut an Details ihrer Biografie, aber sie erinnern sich in keinster Weise an die begleitenden Affekte. Man hat dann den Eindruck, sie reden über etwas völlig Harmloses, in Wirklichkeit sind es oft sehr quälende Rituale, die helfen, nur ja nicht näher hinschauen zu müssen.

Die Furche: Meinen Sie Schmutz im direkten oder übertragenen Sinn?

Springer-Kremser: Beides. Es macht sich meistens an etwas Direktem fest. Nur es ist immer zwiespältig. Personen, die eine große Scheu vor Müll oder Schmutz haben, die haben manchmal ein ganz kleines geheimes Eck, wo sie besonders schmutzig sind. So wie Personen, die sehr peinlich ordentlich und zwanghaft sind, ein ganz kleines Eck haben, wo sie ganz nachlässig und schlampig sind.

Die Furche: Sigmund Freud hat davon gesprochen, dass man gewisse Triebe, von denen ein Mensch meint, sie seien gesellschaftlich nicht akzeptiert, in etwas umwandelt, das der Betroffene als wertvoll erachtet, oder dass man versucht, diese Triebe auszuschalten.

Springer-Kremser: Sie sprechen die Reaktionsbildung an. Das ist ein in diesem Zusammenhang häufig zu beobachtender Abwehrmechanismus und bedeutet, dass so reagiert wird, als ob es sich um das Gegenteil handelt. Das heißt, in der Fantasie spielt der Schmutz eine große Rolle, aber in Handlungen und im Verhalten ist genau das Gegenteil der Fall, das Nichtanstößige steht im Vordergrund.

Die Furche: Gibt es eigentlich Mechanismen, durch die der Mensch Dinge, die er als schmutzig oder wertlos ansieht, in Wertvolles umwandeln kann, quasi "psychisches Recycling"?

Springer-Kremser: Unser Vokabular wäre ein anderes. Man kann Hilfestellungen geben, das ist der Sinn einer analytischen Therapie. Zum Beispiel, wenn sich jemand für wertlos hält, was bei schweren Depressionen der Fall ist, schaut man, wo gibt es Ressourcen, an die man diese Person erinnern kann. In diesem Sinne gibt es das schon. Aber wenn jemand sich selbst und damit auch jemanden anderen extrem abwertet - man kann übrigens nicht andere abwerten und sich selbst nicht und umgekehrt, das geht immer Hand in Hand -, dann sind das pathologische Strukturen.

Die Furche: Bei verdrängten Dingen heißt es oft, der Betroffene müsse sie aufarbeiten …

Springer-Kremser: Was kann man schon aufarbeiten! Ich halte das eigentlich für indiskutabel, wenn man diesen Begriff immer wieder in Zusammenhang mit schrecklichen Schicksalsschlägen hört. Man kann hinschauen und man kann versuchen, das Hinschauen in gewissen Grenzen zu ertragen, aber viel anderes ist oft nicht möglich. Mit dem Begriff "Aufarbeiten" stellt man Menschen, die eh schon traumatisiert sind, vor eine Forderung, die unerfüllbar ist.

Die Furche: Trotzdem hört man das auch oft von Experten.

Springer-Kremser: Es geht um ein Hinschauen, mitunter mit Unterstützung, und das langsam, was kann man ertragen, wie viel Unterstützung braucht man dafür. Nur so kann es ein Stück weit gehen, dass man ein Paket schnürt, es in eine Ecke stellt - und es wird immer da stehen bleiben.

Die Furche: Überspitzt gesagt: Fast wie ein Paket, wo man nur mehr wartet, dass es jemand abholt. Fast eine Art "Abfall" für den Betroffenen?

Springer-Kremser: Nein. Das wäre eine unglaubliche menschliche Geringschätzung. Dinge, die man erlitten hat, sind keine Art Müll.

Die Furche: Ich meinte, Betroffene könnten es als solches sehen.

Springer-Kremser: Es ist Teil des Schicksals, es kann extrem verstörend, belastend, katastrophal sein, aber es ist Teil der Person.

Die Furche: Dennoch könnte eine Person diese Erfahrungen einfach nur vergessen oder verdrängen wollen.

Springer-Kremser: Das "Es" verdrängt, das ist kein bewusster Prozess. Es gibt unterschiedliche Signale, wie man das Unbewusste beobachten kann, zum Beispiel in Träumen. Mitunter brechen sich diese Dinge dann in Träumen Bahn, in Krankheitssymptomen oder in Versprechern.

Die Furche: Wenn von Schmutz oder Reinheit gesprochen wurde, bezog sich das oft vor allem auf die Frauen.

Springer-Kremser: Warum wohl?

Die Furche: Es ging um Macht.

Springer-Kremser: Nicht nur. Es gibt einen anatomischen Unterschied: Die Scheide liegt zwischen Blase und Analöffnung. Daher ist der Begriff "schmutzig" der weiblichen Sexualität wesentlich näher.

Die Furche: Es gab daher Reinigungsrituale. Sehen Sie heute noch Formen davon in unserer Kultur?

Springer-Kremser: Ich habe etwas Interessantes gelesen: Dass die Spa- oder Wellness-Kultur, die wir jetzt so überschießend haben, auch etwas mit dem jüdischen Reinigungsritual zu tun hat. Bei diesem müssen sich Frauen nach bestimmten Tagen baden, damit sie wieder als sauber gelten. Die Menstruation war der Prototyp des unreinen Weiblichen. Das gab es freilich in unterschiedlichen Religionen. Bei Thomas von Aquin etwa mussten die Frauen, die menstruierten, vor der Kirche stehen.

Die Furche: Sie meinen, solche vergangenen oder noch existierenden Reinheitsgebote haben sich auf subtile Art fortgesetzt.

Springer-Kremser: In irgendeiner Weise geistert das nach wie vor herum. Denken Sie an die Werbung für Menstruationsprodukte. Man darf nichts sehen und nichts riechen.

Die Furche: Warum eigentlich?

Springer-Kremser: Blut macht immer Angst. Wir wissen, wie viele Pubertätsrituale damit zu tun haben, Männern die Angst vor dem weiblichen Blut zu nehmen. Der Umgang, man darf nichts sehen und riechen, ist auch ein Auswuchs davon. Wenn Frauen bluten, mobilisiert das Kastrationsängste. Die Frauen bluten da unten, also könnte ich es auch.

* Das Gespräch führte Regine Bogensberger

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