"Das Schicksal glatt in der Hand ...?"

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Im Zug der Pensionsreform (siehe dieswöchiges Dossier) wird auch immer wieder die Notwendigkeit der Eigenvorsorge betont. Vergessen wird dabei allerdings, daß Eigenvorsorge mehr ist als nur der Abschluß von Versicherungen.

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Im Zug der Pensionsreform (siehe dieswöchiges Dossier) wird auch immer wieder die Notwendigkeit der Eigenvorsorge betont. Vergessen wird dabei allerdings, daß Eigenvorsorge mehr ist als nur der Abschluß von Versicherungen.

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Was entsteht, wenn man Eigenvorsorge einzig und allein auf deren materielle Seite reduziert, beispielsweise auf den Abschluß von Versicherungen für alles und gegen jedes? Ich denke, das Ergebnis ist ein "Geregelter Zeitgenosse", den Erich Kästner in seiner in vielen Lebenslagen überaus hilfreichen "Lyrischen Hausapotheke" so treffend beschreibt: Hei, wie er die Zukunft auswendig wußte!

Er kannte die Höhe der Summe genau, die man den Kindern und seiner Frau nach seinem Tod auszahlen mußte.

Er war berühmt als Vater und Gatte, der Leben und Sterben und Diebstahl und Brand versicherungsrechtlich geregelt hatte.

Er hatte das Schicksal glatt in der Hand.

Wer die öffentliche Diskussion über die - angesichts notorisch leerer Staatskassen - mittlerweile so gut wie permanenten "Reformen" von Pensionen und Krankenkassen aufmerksam verfolgt, könnte nur zu leicht zu der - notabene irrigen - Auffassung kommen, "geregelte Zeitgenossen" wären das Ziel dessen, was man "Eigenvorsorge" nennt. Ein nur mäßig attraktives Ziel, das wohl kaum begeisterten Einsatz hervorzurufen vermag. Doch scheint mir dies allein keine ausreichende Erklärung zu sein, warum sich Akzeptanz und Popularität des Gedankens der Eigenvorsorge verkehrt proportional zu der Intensität verhalten, mit der er propagiert wird.

Ich denke, die Ursache dafür liegt tiefer in unserer Gesellschaft, die der amerikanische Lyriker und Publizist Robert Bly zu recht als eine "kindliche" beschrieben hat, gekennzeichnet von der "Weigerung, erwachsen zu werden" ("Die kindliche Gesellschaft", Kindler, 1997). Seine Thesen über die US-Gesellschaft - schwindende Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern, die zunehmende Weigerung, Verantwortung zu übernehmen und einen Beitrag zur sozialen Gemeinschaft zu leisten sowie das Aufgeben von sozialem Engagement, politischem Bewußtsein und Auseinandersetzung mit den eigenen kulturellen Wurzeln zugunsten von schnellem Erfolg, Geld, Spaß, Entertainment - gelten mutatis mutandis, also im wesentlichen auch für die europäische Gesellschaft im allgemeinen und für die österreichische im besonderen.

Denn in der Tat hat richtig verstandene Eigenvorsorge sehr viel mit Erwachsen-Sein, besser: mit Erwachsen- und Unabhängig-Sein-, mit Auf-den-eigenen-Beinen-Stehen-Wollen zu tun. Unabhängigkeit heißt wohl, im persönlichen Leben möglichst wenig fremdbestimmt, möglichst eigenständig zu sein, nicht immer Ja sagen zu müssen, sondern auch Nein sagen zu können. Auch gegenüber den sogenannten Mächtigen aller Arten und Grade, ohne deshalb um die eigene Existenz fürchten zu müssen.

Unabhängigkeit gegenüber den Mächtigen - ich kenne kein schöneres Beispiel als jene Anekdote, die von Diogenes in der Tonne erzählt wird, der Alexander dem Großen im antiken Korinth auf dessen großzügiges Angebot, ihm einen Wunsch zu erfüllen, mit ruhiger Zufriedenheit geantwortet haben soll: "Geh' mir ein wenig aus der Sonne."

Die Gelassenheit und die Sicherheit, die in dieser Antwort zum Ausdruck kamen, hatten nur zum kleinsten Teil mit materieller Eigenvorsorge zu tun - Diogenes wohnte in einer Tonne, nicht in einem luxuriösen, gut bewachten Palast -, sie hatten (und haben in vergleichbaren Situationen auch heute noch) ihre Grundlage in dem, was man geistige Eigenvorsorge nennen kann - in einer bestimmten, vom Streben nach maximaler Autarkie geprägten Einstellung zum Leben -, die mir weitaus wichtiger scheint als materielle Investitionen, mit denen versucht wird, persönlichen Wohlstand in ungewisser Zukunft abzusichern.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: ich halte absolut nichts davon, einfach in den Tag hinein und/oder über meine Verhältnisse zu leben; die Devise: "Verkauft's mei' G'wand, i' fahr' in Himmel" gefällt mir bestenfalls beim Heurigen, wo ich übrigens andere Lieder mehr schätze.

"Zores auf Vorschuß" Geistige Eigenvorsorge - das heißt zunächst einmal, erwachsen zu werden, wie das Robert Bly in seinem lesenswerten Buch definiert: "Ich würde also sagen, daß ein Erwachsener ein Mensch ist, der nicht mehr unter der Herrschaft der prä-ödipalen Wünsche steht, die unausgesetzt nach Lust, Wohlgefühl und Unterhaltung verlangen ... Nur Erwachsene haben die Einsicht, daß die Welt in erster Linie den Toten gehört und wir sie nur für eine begrenzte Zeit von ihnen geliehen haben. Sie schufen die Welt vor uns ... Ihnen wäre die Art und Weise wie Kinder behandelt werden, nicht gleichgültig, denn die Kinder sind es, die den Fortbestand garantieren. Die Vorstellung, daß jeder das Recht habe, alles zu verändern, ist ein schweres Vergehen gegen sie ... Und schließlich ist ein Erwachsener fähig zur Entsagung, was mir, einer Person mit großem Appetit, besonders schwer fiel. Je älter ich werde, desto schöner klingt für mich das Wort Entsagung. Wir müssen den Erwachsenen neu erschaffen und den Ältesten wieder Ehre angedeihen lassen. Die Hoffnung liegt in unserem Wunsch, erwachsen zu sein, und im Wunsch für die Jüngeren, wenn sie wissen, was respektable Erwachsene sind, ebenfalls erwachsen zu werden."

Geistige Eigenvorsorge beruht auf der Weisheit des lateinischen Spruchs: "Quidquid agis, prudenter agas et respice finem". Diese Mahnung, vorsichtig zu handeln und stets die Konsequenzen des eigenen Handelns zu bedenken, findet sich auch in dem alttestamentlichen apokryphen Buch Jesus Sirach, wo es heißt: "Was immer du tust, so bedenke das Ende, so wirst du nimmermehr Übles tun". Respice finem! - Diese Aufforderung hat mit notwendiger Vorsorge, nichts jedoch mit dem zu tun, was ein langjähriger Kollege und Freund gern spöttisch "Zores auf Vorschuß" nannte, den Luxus, negativ zu denken, die weit verbreitete Sucht, sich mit unnötigen Sorgen das Leben unnötig zu erschweren und den Teufel so lange an die Wand zu malen, bis er tatsächlich herunterspringt.

Die Mahnung "Respice finem" widerspricht nicht dem positiven Denken, das insbesondere in schwierigen Zeiten besonders notwendig und unverzichtbar ist. In diese Richtung einer bejahenden Lebenseinstellung weist denn auch ein anderes Zitat aus der alttestamentlichem apokryphen Schrift, das da lautet: "Denn ein fröhlich Herz ist des Menschen Leben, und seine Freude ist sein langes Leben. Tue dir Gutes, und tröste dein Herz, und treibe Traurigkeit fern von dir. Denn Traurigkeit tötet viele Leute und dient doch zu nichts. Eifer und Zorn verkürzen das Leben, und Sorge macht alt vor der Zeit."

Maß halten Es geht, so meine ich, um das rechte Maß, das sich wiederum aus den Kardinaltugenden ergibt, zu denen seit Platons Zeit neben Weisheit, Tapferkeit und Gerechtigkeit bekanntlich auch das besonnene Maßhalten zählt. Eine Tugend, die in unserer Zeit nicht besonders große Konjunktur hat, neigen doch unsere Gesellschaften und ihre Mitglieder mehr oder minder stark zu Übertreibungen - maßlosen gelegentlich - auf allzu vielen Gebieten: in Ansprüchen ebenso wie in Urteilen (negativen zumal), im Konsum ebenso wie im Genuß. Als ob Unglück und Leid nicht auch Bestandteile unseres Lebens wären.

Franz Grillparzers unerbittlich strenge Zeile: "Des Menschen Recht heißt hungern, Freund, und leiden" (Rudolf II im "Bruderzwist in Habsburg" zum Herzog Julius von Braunschweig) hat mich in meiner Jugend schon erschreckt und erweckt noch heute instinktive Abwehr in mir. Doch hat mich die Erfahrung der Jahre gelehrt, daß diese Worte des großen österreichischen Klassikers so fern der Realität leider nicht sind. Und sie haben auch mit der Notwendigkeit von Vorsorge zu tun. Mit materieller ebenso wie mit geistiger. Grillparzer selbst verweist in Rudolfs großem Monolog sowohl auf die eine: Eh' noch ein Acker war, der frommer Pflege Die Frucht vereint, den Vorrat für das Jahr; als auch auf die andere: Aus eignem Schoß ringt los sich der Barbar, Der, wenn erst ohne Zügel, alles Große, Die Kunst, die Wissenschaft, den Staat, die Kirche, Herabstürzt von der Höhe, die sie schützt, Zur Oberfläche eigener Gemeinheit, Bis alles gleich, ei ja, weil alles niedrig.

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