"Das Stigma bleibt bestehen“

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Die Afrikanistin Marie Rodet erforscht die Geschichte und das Erbe der Sklaverei in Mali. 1905 wurde der Handel mit Sklaven per Dekret abgeschafft. An der gesellschaftlichen Stellung der Leibeigenen änderte das aber wenig.

Marie Rodet, Historikerin aus Le Havre/Frankreich forscht in einem Herta Firnberg-Stipendium am Institut für Afrikanistik der Uni Wien zur Geschichte der Sklaverei in Mali.

Die Furche: Sie haben sich in Ihrer Arbeit mit der Entwicklung der internen Sklaverei in Mali beschäftigt. Sie wiesen nach, dass das System der Sklaverei bis in die 60er Jahre Bestand hatte, obwohl sie schon seit 1905 verboten war.

Marie Rodet: Ich würde nicht sagen, das System hat weiter bestanden, aber die Stigmatisierung hat weiterbestanden. Zum Teil gelten die sozialen Schranken heute noch - vor allem in den Dörfern. Die Rechtsänderung bedeutete also nicht, dass sich die gesellschaftliche Situation für die Menschen sofort änderte. In kleineren Siedlungseinheiten ist es heute noch verpönt, dass Nachkommen von Sklaven Nachkommen von Sklavenhaltern heiraten. In Nachbarländern wie Niger sind die Nachwirkungen noch stärker: Kinder, die Sklaven als Vorfahren haben, sind noch immer besonders häufig Opfer von Zwangsehen oder sie werden oft schon in der Kindheit als Haushaltsgehilfen verkauft.

Die Furche: Sie beschreiben, dass viele Sklaven ihre Dörfer trotz der Befreiung nicht verließen?

Rodet: Die Mehrheit ist in den Dörfern geblieben, etwa 70 Prozent. Es ist auch die Frage, wohin sie hätten gehen sollen? Jene, die weggingen, waren Menschen, die wussten, woher sie ursprünglich stammten, oder sie hatten Aussicht auf eine eigene Landwirtschaft - oder sie gingen wegen einer der zahlreichen Hungersnöte, die es zwischen 1910 und 1940 gab. Ich habe eine alte Frau kennengelernt, deren Vater zum Zeitpunkt der Befreiung nicht einmal die amtliche Bestätigung über seine Befreiung abholen wollte mit der Begründung, es ändere nichts an seiner Situation. Wir können uns das mit unseren heutigen Begriffen kaum vorstellen. Aber Sklaverei bedeutete trotz der Unterdrückung auch so etwas wie Sicherheit. Menschen, die ihre Dörfer verließen, waren großen Gefahren ausgesetzt. Sie konnten erneut Opfer von Krieg und Gewalt werden und von Sklavenhändlern. Denn der Handel war noch vorhanden, obwohl er gesetzlich verboten war. Dazu kommt: Wenn Familien schon seit Generationen als Sklaven lebten, war es für einige auch schon zur Gewohnheit geworden. In Mali gab es schon seit Jahrhunderten Sklaverei.

Die Furche: Sie sprechen in Ihrer Arbeit auch die sozialen Unterschiede unter den Sklaven an.

Rodet: Sklaverei beschreibt nicht nur einen einzigen Zustand der Unfreiheit. Es gab viele Abstufungen. Es gab Arbeitssklaven, die auf den Feldern lebten und ihrem Sklavenhalter nach der Befreiung einen Zehent abliefern mussten. Manche hatten schon eigene Felder. Es gab Haushaltsgehilfen, die am Familienleben ihrer Sklavenhalter teilnahmen. Es gab auch schon Sklaven, die als Verwalter oder Vertreter tätig waren, die also auch für ihre Sklavenhalter Geschäfte abschließen durften.

Die Furche: Aus welchen Regionen stammten die Sklaven?

Rodet: Besonders im 19. Jahrhundert gab es eine große Zahl von Kriegen in Westafrika, deshalb florierte der Sklavenhandel mit Vertriebenen und Kriegsgefangenen. Es gab ein enormes Sklavenangebot gegen Ende des 19. Jahrhunderts. 40 bis 60 Prozent der Bevölkerung Malis waren Sklaven. Daher hatten die französischen Kolonialherren auch zunächst die Sorge, die Sklaverei von einem zum anderen Tag aufzuheben, würde zu ernsten wirtschaftlichen Konsequenzen führen.

Die Furche: Gab es die auch?

Rodet: Nur zum Teil. Die Franzosen, aber auch die ehemaligen Sklavenhalter taten alles, um die Sklaven als Arbeiter und Pächter auf den Ländereien zu halten. Dazu erhofften sich die Franzosen, dass sie freie Sklaven als Arbeiter für ihre Eisenbahnlinien und Baustellen gewinnen könnten. Doch dieses Kalkül ging nicht auf.

Die Furche: Berufen sich die ehemaligen Sklaven auf ihr historisches Erbe?

Rodet: Das ist unterschiedlich. Jene, die blieben, behielten ihren Sozialstatus. Jene, die weggingen, etwa in den Senegal, haben zum Teil ihren Dialekt erhalten. Sie verleugnen allerdings vielfach ihre Abstammung. Sie wollen nicht, dass ihre Kinder unter dem Stigma der Vergangenheit aufwachsen. Gleichzeitig sind sie aber jene, die es geschafft haben sich zu befreien - vielfach über Karrieren in der Kolonialverwaltung; Sie waren die Ersten, die in der Administration gearbeitet haben. Sie waren die Ersten in der Armee, die Ersten, die öffentliche Schulen besuchten.

Die Furche: Wie geht man politisch damit um?

Rodet: Man kann es so ausdrücken: Es ist kein Zufall, dass bei allen Präsidentenwahlen die Herkunft des einen oder anderen Kandidaten thematisiert wird. In der Regierungspolitik selbst spielt es dagegen keine Rolle mehr.

* Das Gespräch führte Oliver Tanzer

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