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Das Übel an der Wurzel packen

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Ein Bäcker leidet seit Jahren an Asthma und einer Roggenmehl-Allergie. Er kann seinen Reruf kaum mehr ausüben, da bringt eine einzige Injektion an einen empfindlichen Nervenknoten an der Hand die Beschwerden zum Verschwinden. Eine Nachbehandlung nach rund einem Jahr ist noch nötig, dann ist er endgültig geheilt. Dasselbe Medikament, an eine Zahnwurzel gespritzt, befreit eine Gastwirtin vom Rheuma im Kniegelenk. Ein an beiden Reinen gelähmter Tierarzt steht nach einer Spritze in einen Finger, den er sich vor langer Zeit mit einer infizierten Punktionsnadel verletzt hat, aus dem Rollstuhl auf und geht...

Das sind keine „Wunderheilungen", sondern wissenschaftlich dokumentierte Erfolge der Neuralthera-pie. Besondere Angst vor Spritzen sollte man nicht haben, wenn man sich dieser Behandlung unterzieht. Oft sind viele Injektionen nötig, bis der Heilerfolg eintritt. Aber die Chancen, auf diese Weise von Schmerzen und chronischen Leiden befreit zu werden, stehen gut. Bei fast 50 Prozent der Patienten kann man die Neuralthera-pie anwenden", meint Christian Adensamer, praktischer Arzt in Wien. Migräne, Bheuma, Asthma, Allergien, funktionelle Organleiden, ja selbst bestimmte Fälle von Angina pectoris gehören in die lange Liste der Erkrankungen, die durch Neuralthera-pie positiv beeinflußt oder sogar geheilt werden können.

Die Geschichte der Neuraitherapie begann im Jahr 1925, als der Düsseldorfer Arzt Ferdinand Huneke seiner migränegeplagten Schwester irrtümlich ein Bheumamittel mit Procain-Zusatz in die Vene spritzte und vor sei -nen Augen wie durch ein Wunder Übelkeit und Schmerzen verschwanden. Andere Ärzte hatten diese Wirkung des Lokalanästhetikums Procain schon früher entdeckt --Ferdinand Huneke war es, der gemeinsam mit seinem Bruder Walter die „Heilanästhesie" zur Methode entwickelte und damit den Grundstein für die moderne Neuraitherapie legte.

Vieles, was seither in Theorie und Praxis erarbeitet wurde, geriet bald wieder in Vergessenheit - wohl der Hauptgrund dafür, daß die Neu-raltherapie noch immer gern in die Grauzone „alternativer" Heilmethoden gerückt wird. „Die wissenschaftlichen Grundlagen sind aber längst beinhart festgeschrieben", stellt der Internist und Universitätsdozent Otto Bergsmann aus Pressbaum bei Wien klar. Er selbst hat sich vor mehr als zwanzig Jahren mit einer einschlägigen Arbeit habilitiert - allerdings ohne das Wort „Neuraitherapie" auch nur ein einziges Mal zu erwähnen: „Sonst hätte man mich hinausgeworfen oder einfach ignoriert."

Die grundlegende und einleuchtende Erkenntnis der Neuraitherapeuten: Krankheit ist ein biokybernetisches - das heißt die Steuerungsund Regelungsmechanismen biologischer Systeme betreffendes - Problem. Der Informationsaustausch und die Steuerung im Organismus erfolgen über das vegetative Nervensystem und über elektromagnetische Vorgänge im Zwischenzellwasser. Krankmachende ebenso wie heilende Reize können auf diesem Weg im ganzen Körper übertragen werden. Wenn die Informations- und Regulationsmechanismen im Körper, durch die jede der rund 40 Trillionen Körperzellen mit jeder anderen in Verbindung steht, dauerhaft gestört sind, wird man krank.

Die Neuraitherapie will solche Regulationsstörungen beseitigen und damit das Übel an der Wurzel packen, anstatt nur Krankheitssymptome zu bekämpfen. „In der Schulmedizin endet die ärztliche Remühung viel zu oft mit der Diagnose", kritisiert der seit Jahren in Tirol praktizierende ostdeutsche Neuraitherapeut Peter Dosch, Verfasser des ersten „Lehrbuches der Neuraitherapie". „Du hast Asthma - Punkt, aus. Aber Asthma kann die verschiedensten Ursachen haben, ebenso unterschiedlich sind die Wege zur Heilung." Ganz ähnlich der Kärntner Arzt E,rwin Rerger: „Es ist nicht sinnvoll, Schmerzen mit Schmerzmitteln, Cortison oder Psychopharmaka zu unterdrücken. Damit überdeckt man nur ein wichtiges Warnsignal, beseitigt aber nicht die zugrundeliegende Störung."

Bei der - inzwischen auch von Puristen der medizinischen Schule nicht mehr angezweifelten - „Segmenttherapie", die vor allem in der Schmerzbekämpfung angewendet wird, setzt die Rehandlung direkt an der schmerzenden Körperstelle, dem schmerzleitenden Nerv oder der dem erkrankten Organ zugeordneten Reflexzone an. Das injizierte Lokalanästhetikum - Procain oder Lidocain - macht das Gewebe für eine gewisse Zeit gegen Reize unempfindlich, die durch Schmerzen hervorgerufenen Verkrampfungen können sich lösen. Zugleich wird der Zellstoffwechsel intensiviert, die kranken Zellen, in denen sich Schadstoffe und Stoffwechselschlacken abgelagert haben, können sich „entgiften" und in weiterer Folge ihr natürliches Energiepotential wieder aufbauen. Die „Schmerzspirale" ist durchbrochen -zunächst meist nur für einige Stunden oder Tage, mit jeder Wiederholung der Behandlung aber für einen längeren Zeitraum, bis das Leiden schließlich endgültig erlischt.

Darüber hinaus hat die Neuraitherapie aber auch eine - in der Schulmedizin noch umstrittene - viel weitergehende regulatorische Wirkung. Geschädigte Zellen können im sensiblen Regulationssystem wie ein Störsender wirken, dessen krankmachende Signale sich dort am stärksten auswirken, wo der Mensch seine gesundheitliche Schwachstelle hat. So können Narben, kranke oder „tote" Zähne und andere Bereiche mit gestörtem Fjiergiepotential auch außerhalb des jeweiligen Körpersegments ein chronisches Leiden auslösen. Die Neuraitherapie kann solche Störfelder vorübergehend oder dauerhaft ausschalten - die Beschwerden verschwinden dann tatsächlich in Sekundenschnelle. Selbst wenn für die endgültige Beseitigung des Störfeldes, etwa des kranken Zahnes, auf herkömmliche Methoden zurückgegriffen werden muß: als Mittel der differenzierten Diagnostik, das auch verborgene Krankheitsursachen aufdeckt, ist die Neuraitherapie kaum zu überbieten.

Um einen Placebo-Effekt handelt es sich dabei übrigens mit Sicherheit nicht: Auch in der Veterinärmedizin, in der es bekanntlich keine eingebildeten Krankheiten und ebensowenig Suggestivwirkungen von Therapien gibt, werden mit den Injektionen verblüffende Erfolge erzielt.

Immer mehr Ärzte befassen sich daher heute mit dieser Therapie, die in Österreich zwar noch nicht an der Universität gelehrt wird, für die aber die „Gesellschaft für Neuraitherapie und Regulationsforschung" eine Ausbildung mit einem von der Ärztekammer anerkannten Abschlußdi-plom anbietet. „Die Klinik steht ihr mit Respekt gegenüber", betont Chri -stian Adensamer. Wie zwiespältig das Verhältnis der Schulmedizin zur Neu-raltherapie aber nach wie vor ist, drückt sich auch darin aus, daß die Krankenkassen nicht die Therapie, wohl aber bestimmte, genau definierte neuraltherapeutische Injektionen bezahlen.

„Was für die volle wissenschaftliche Anerkennung noch fehlt, ist die absolute Gesetzmäßigkeit, die abschließende Erklärung auch für jene Fälle, in denen die Wirkung ausbleibt", erläutert Adensamer. Fjine hohe Anforderung, die wohl auch von den herkömmlichen, längst außer Streit stehenden Behandlungsmethoden nicht immer erfüllt wird. Sonst gäbe es nicht die vielen von der Schulmedizin mit einem Achselzucken aufgegebenen „therapieresistenten Fälle", die beim Neuraitherapeuten Hilfe finden ...

Wie auch immer: Wissenschaftler - unter ihnen Otto Bergsmann, aber auch der westfälische Arzt Hartmut Heine, dem es gelang, eine Art Tunnelsystem im Zwischenzellwasser mit eminenter Bedeutung für die molekularen Transporte im Organismus nachzuweisen - arbeiten fieberhaft an der theoretischen Untermauerung dessen, was die Praxis längst zweifelsfrei belegt hat. Wobei es, so Bergsmann, vor allem darum gehe, das seit Jahrzehnten vorhandene Material neu aufzubereiten, auf den Stand der heutigen Forschung zu bringen.

Für den Arzt, der trotz Hochtech-nologie und Hochspezialisierung der modernen Medizin den Blick für das Ganze noch nicht verloren hat, bieten sich hier jedenfalls ungeahnte Möglichkeiten. Unter der Voraussetzung, daß er bereit ist, sich wieder mehr dem Patienten selbst zuzuwenden, sich Zeit zu nehmen für die gründliche Untersuchung und das Gespräch mit dem Kranken, das ihm die wertvollsten Aufschlüsse über mögliche Krankheitsursachen geben kann. Der Patient andererseits muß sich von der Vorstellung lösen, Gesundheit wie eine Ware kaufen zu können. Seine intensive Mitarbeit ist bei der Neu-raltherapie immer gefordert, oft auch viel Geduld. Ein Einsatz, der sich angesichts der guten Heilungschancen lohnen dürfte.

Die Autorin ist freie Journalistin.

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