Das war mehr als nur ein Jux der Wähler

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Der FPÖ-Erfolg ist von anderem Kaliber als ein "Denkzettel" oder eine "Ermahnung". Wer das nicht sehen will, zeigt einen neuerlichen Verlust von Wahrnehmungsfähigkeit.

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Der FPÖ-Erfolg ist von anderem Kaliber als ein "Denkzettel" oder eine "Ermahnung". Wer das nicht sehen will, zeigt einen neuerlichen Verlust von Wahrnehmungsfähigkeit.

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Seit dem 3. Oktober 1999 ist die Zweite Republik tot. Nichts wird mehr, wie es einmal war. Die Bevölkerung hat sich vom System des Gleichgewichts verabschiedet und das politische Sicherheitsdenken aufgegeben. Österreich hat sich in eine neue Epoche eingewählt. Ab nun ist nichts mehr sicher. Unser Land hat sich mit einem Schlag aus der politischen Hyperstabilität katapultiert und in eine politische Risikogesellschaft verwandelt.

Volkspartei und Sozialdemokraten tragen in dieser Situation eine außergewöhnliche Verantwortung. Beide müssen sich von taktischen Einschätzungen der neuen Verhältnisse radikal trennen. Nur so werden sie dazu in der Lage sein, die enormen Dimensionen der politischen Krise in Österreich, einschließlich ihres eigenen Beitrags zu dieser Krise, zu erkennen.

In die ganz entgegengesetzte Richtung verweist die (in ihrer nonchalanten Selbstgefälligkeit nicht mehr zu übertreffende) Diagnose, der Wähler sei "verärgert" gewesen und habe nur einen "Denkzettel" verteilt, der Souverän habe daran Gefallen gefunden, "Frust" abzulassen, obwohl uns ja eigentlich die ganze Welt - ganz zu Recht - beneidet. Mit solchen Erklärungen werden die nötigen Veränderungen in gewohnte Größenordnungen geschrumpft: Streit und schlechte Kommunikation werden ausgemerzt, die Entscheidungen fallen schneller, die Ressorts werden umgestaltet und für alle Vorhaben gibt es Terminvorgaben. In der virtuellen Retortenküche wird wieder eingeheizt, um für den Bürger neue schmackhaftere Gerichte zuzubereiten, die netter als bisher garniert sind und aufmerksamer serviert werden.

Schön wäre es, hätte das Volk bedächtig warnend den Zeigefinger gehoben. Aber der Wahlausgang war von anderem Kaliber als ein Denkzettel, als eine Ermahnung. Nichts kennzeichnet die Diagnoseunfähigkeit der Technopolitik treffender als die Klage, der Bürger habe sich entgegen einer ausgezeichneten "Datenlage" dazu entschieden, jenen Parteien den Rücken zuzukehren, die für die Erfolgsgeschichte des Landes stehen. Ja, einen Jux wollt' er sich machen.

Interpretationen wie diese beweisen einen besorgniserregenden Verfall an Wahrnehmungsfähigkeit. Den Menschen ist die (keineswegs so rosige) "Datenlage" egal, wenn sich in den Lebenswelten Veränderungen abspielen, die das seelische Befinden in den Grundfesten erschüttern. In dieser politischen "hot zone" verschmelzen undefinierte, namenlose, schamhaft tabuisierte Verletzungen, Ängste und Verarmungen mit den aggressiv vorgetragenen politischen Veränderungswünschen, die Haider artikuliert.

Kampflose Preisgabe Aber die in War-Rooms verschanzten Kommunikationstrategen haben das Feld, in dem Politik und Leben aufeinandertreffen, kampflos preisgegeben. Sie verbreiteten ein durch mehrere Filter verfremdetes Bild eines heilen Österreich und vergaßen, daß das Wahlverhalten eng mit dem konketen Leben und Arbeiten, mit Hoffnungen und Träumen, mit Wut und Enttäuschungen verbunden ist. Schönfärberei und Kritiklosigkeit haben Haiders Erfolg maßgeblich herbeigeführt. Das Schweigen zu Armut und Hoffnungslosigkeit, die Ignoranz gegenüber den Schneisen, die der rasende Techno-Kapitalismus in die soziokulturellen Biotope schneidet, haben der FPÖ Gelegenheit gegeben, sich in den sozialen und kulturellen Bruchlinien der Zivilisation einzunisten. Ob psychische Krankheiten oder Sinnverluste, Desynchronisierung von Lebens- und Arbeitsrhythmen, Autonomieverluste, wachsende Unwirtlichkeit und Aggressivität im Alltag, all das fand nicht die Gnade der Aufmerksamkeit bei jenen, die mit dem Schönen von Arbeitslosenstatistiken und mit dem Auswählen von Bildchen beschäftigt waren. Weder die Fremdartigkeit und technische Unterkühltheit des halbfertigen europäischen Projekts, noch die angsterzeugenden Manifestationen der Risikogesellschaft, das Zerbröseln der familiären Bindungen, die unfaßbare Durchrationalisierung und Vollkommerzialisierung der Gesellschaft konnten das Abspielen der Optimismusplatten und die kritiklos hinausgeblasenen Zukunftseuphorien aufhalten.

Der Aufstieg von Haider offenbart schonungslos politische und kommunikative Schwächen und Leerstellen der bisher Regierenden. Die Aggressivität der Modernisierungsverlierer und das obszöne Sperrfeuer auf bestimmte Zielscheiben und Reizthemen, wie Ausländer, Sozialschmarotzer, Osterweiterung, Sozialbürokraten, EU und andere finden ihre erkennbaren Ursachen in konkreten, massenhaft erfahrbaren Lebensverhältnissen und sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Hier hat man die Menschen jahrelang sich selbst überlassen.

Eine zweite Fehleinschätzung betrifft das Wesen der FPÖ. Die viele Jahre gehegte Hoffnung, die Menschen würden vor Rechtsradikalismus oder Rechtspopulismus zurückschrecken und irgendwann einmal werde das Wählerpotential (das man auf nicht mehr als ein paar Prozent schätzen kann) für diese Richtung erschöpft sein, hat sich zerschlagen. Die FPÖ ist nicht bei fünf Prozent stehengeblieben - und größer ist das faschistoide Potential in Österreich sicher nicht. Die Erschöpfung trat nicht ein, weil die FPÖ eben gerade keine Identität im klassischen politischen Spektrum gesucht hat. Sie setzt ihr Erscheinungsbild bewußt aus einer Vielzahl von Puzzleteilen zusammen, aus rechtskonservativen ebenso wie linkspopulistischen, aus kapitalismuskritischen, radikaldemokratischen, gelegentlich auch neoliberalen. So gesehen ist sie die erste postmoderne Partei in Österreich. Sie repräsentiert einen ganz neuen Typus, den einer multioptionalen Mischpartei, die dabei den multiplen Patchwork-Identitäten der postmodernen Menschen durchaus entspricht. Vermutlich würde man in einem politischen Erlebnispark solchen Konstrukten häufig begegnen. Haider liegt näher an Hollywood als an fossilhaft wirkenden Figuren der ideologischen Rechten wie Le Pen. Die Bezeichnung als rechtsradikal trifft daher nicht das Wesen dieser Partei. Hier irren auch viele ausländische Kommentatoren.

Dazu kommt die hochgradige Ambivalenz seiner Anhängerschaft: deren aggressives, mit unverzichtbaren zivilisatorischen Werten unvereinbares, hochgradig konfrontatives politisches Denken und Verhalten fußt häufig auf verzerrten, mit Erbitterung und Frustrationen, Wut und Ablehnung verbundenen Gerechtigkeitsvorstellungen, auf verweigerten sozialen Ansprüchen, auf Ängsten vor der Zerstörung von Lebensweisen und tiefsitzenden familiären Wunschvorstellungen und sonstigen Verlusterfahrungen. Es speist sich aus ähnlichen Wurzeln, aus denen auch Sozialdemokraten und Christen die für eine Veränderung dieser Gesellschaft notwendige emotionale und symbolische Energie gewinnen müßten - auch wenn die inhaltlichen Konzeptionen ganz andere wären.

Die bittere Wahrheit Aber nur Haider nutzt auf seine Weise und für seine Ziele dieses weite Feld an emotionalen Energien, das von VP und SP solange nicht erschlossen werden kann, als sie es nicht wagen, sich den Grundfragen der heutigen Zeit zu stellen. Zu der überfälligen Erneuerung gehört Gesellschafts- und Zivilisationskritik, ein anderes Bild vom künftigen guten Leben, ein Ringen um neue Gesellschaftsverträge, um einen neuen gesellschaftlichen Grundkonsens, ein umfassendes Projekt der Nutzung des Reichtums für alle und der Erweiterung des Reichtumsbegriffs auf neue Felder. Darauf können Veränderungsprojekte wie Grundsicherungen, ein neuer Geschlechtervertrag, eine radikale Ökologisierung und eine Bewahrung der kulturellen Identitäten aufsetzen, also Vorstellungen, die jene Mächtigkeit haben, um sich als politische Gegenkonzepte zu Haiders Projekt durchzusetzen.

Bleibt eine entscheidende offene Frage: Warum haben die Koalitionsparteien die gesellschaftlichen Grundfragen so über die Maßen großzügig dem politischen Gegner überlassen? Die bittere Wahrheit ist: Unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist zwischen VP und SP eine wirkliche Reformpartnerschaft inhaltlich wohl nicht möglich. Unter dem Einfluß kurzfristigen Interessendenkens und parteitaktischer Mißgunst gegenüber dem Partner hat niemand über Gemeinsamkeiten bei der Gestaltung einer neuen Gesellschaft in Österreich nachgedacht. Angesichts der vorherrschenden Denkweisen hätte das Aufgreifen von wirklichen Zukunftsthemen den zerbrechlichen Grundkonsens der Koalition sofort in Frage gestellt. Schon die zaghafte Diskussion über eine Neudefinition der Arbeit - in Form einer bezahlten Nichterwerbstätigkeit von Frauen beim Karenzgeld für alle - hat einen ganz häßlichen Befund an das Tageslicht gebracht: es gibt aus der Perspektive von Parteistrategen und Interessenvertretern derzeit keine gemeinsame Basis für eine großen Wurf. Das wird sich verstärken, wenn die SP eine Volte "zurück zu den Wurzeln" macht und die VP nach ihrem relativen Erfolg die SP in zentralen Fragen der Familien, Sozial- und Sicherheitspoltik zu Zugeständnissen zwingen will. Die Ressourcen einer Zusammenarbeit auf der Basis technokratischer Minimalkonsense sind verbraucht. Ob andere Konsensfelder erschlossen werden können, ist daher die alles entscheidende Frage. Daß es sie gäbe, wenn man den "Möglichkeitssinn" (Robert Menasse) aktiviert, ist anzunehmen. Der Bundespräsident sollte zur Vorbereitung seiner Entscheidung genau auf diese Frage eine Antwort einfordern.

Der Autor is Professor für Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Salzburg, war zehn Jahre sozialdemokratischer Abgeordneter im Salzburger Landtag und ist Präsident der Robert-Jungk-Stiftung.

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