"Das wichtigste ist, mit uns auch zu reden"

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Durch die schwarze Augenbinde dringt nicht der geringste Lichtstrahl. Nur mehr unsicher tastend vorwärtskommen, kein Gefühl für Raum und Zeit.Jetzt lässt sich erahnen, wie es ist, blind und hilflos zu sein.Ein Bericht aus einem Ausbildungszentrum für Blinde und deren Angehörige.

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Durch die schwarze Augenbinde dringt nicht der geringste Lichtstrahl. Nur mehr unsicher tastend vorwärtskommen, kein Gefühl für Raum und Zeit.Jetzt lässt sich erahnen, wie es ist, blind und hilflos zu sein.Ein Bericht aus einem Ausbildungszentrum für Blinde und deren Angehörige.

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Wieviele Menschen befinden sich in diesem Raum? Mindestens drei, vielleicht aber auch fünf oder sechs. Man hört verschiedene Stimmen. Man hört, dass Personen das Zimmer verlassen oder betreten. Es ist ein bisschen beängstigend, nicht zu wissen, wer diese Personen sind. Sie beobachten einen. Alles ist schwarz.

"Nehmen Sie am Frühstückstisch Platz!", fordert die Trainerin. Unsichere Hände tasten über den gedeckten Tisch, und versuchen, Teller, Tassen, Besteck und Gläser zu lokalisieren, ohne etwas hinunter zu werfen. "Darf ich Ihnen Fred vorstellen", ertönt da wieder die Stimme der Trainerin. "Er hat gerade den Raum betreten und möchte Ihnen die Hand geben!" Freds Hand fühlt sich feucht an. Seine Stimme klingt, als wäre er ein dicker, behäbiger, gemütlicher Mann. Später stellt sich heraus, dass er dünn wie eine Bohnenstange ist. Dann kommt Marina ins Frühstückszimmer. Ihre Stimme ist ebenso zart wie ihr Händedruck.

Zum Frühstück gibt es sogar Sekt. Der Versuch, mit den Sektgläsern anzustoßen, scheitert ebenso wie der Versuch, eine Kerze anzuzünden. Beim Kaffee-Einschenken läuft die Tasse über. Das Frühstücksei ist die größte Herausforderung. Die tastenden Hände finden zwei gläserne Streuer auf dem Tisch. Welches ist der Salz- und welches der Pfefferstreuer? "Versuchen Sie es mit Schütteln!" rät die Trainerin, "Sie erkennen es am Geräusch!"

Frühstücken mit zwei fremden Menschen ist ein Kinderspiel - wenn man sehen kann. Wenn man jedoch eine Augenbinde trägt, durch die auch nicht der schwächste Lichtstrahl dringt, wird es zu einer fast unlösbaren Aufgabe. Die Augenbinde verwendet die Trainerin Waltraud Strohmaier bei der "Rehabilitation und Integration Sehbehinderter und Späterblindeter" (RISS) in Linz bevorzugt bei Angehörigen von Blinden. "Oft haben Verwandte oder Freunde kein Verständnis dafür, dass Blinde zum Beispiel Schwierigkeiten beim Essen haben", erklärt sie. "Dann setze ich ihnen die Augenbinde auf, um ihnen zu zeigen, wie kompliziert ganz alltägliche Tätigkeiten werden, wenn man nichts sehen kann."

Wenig Verständnis Waltraud Strohmaier ist Trainerin für "Lebenspraktische Fertigkeiten" (LPF). Sie hilft sehbehinderten und blinden Menschen dabei, ihre Selbstständigkeit im Alltag wieder zu erlangen. "Sie müssen sich vorstellen", erläutert sie, "Sie sollen um eine bestimmte Uhrzeit aufstehen und müssen sich den Wecker stellen. Den können Sie aber nicht ablesen. Dann müssen Sie Frühstück machen, Kaffee kochen, Wasser abmessen. Sie müssen sich frisieren, schminken, ohne zu sehen. Sich anziehen. Woher wollen Sie wissen, dass der Pullover zur Hose passt? Oder dass beide Socken die gleiche Farbe haben? Kochen, essen, die Wohnung sauber halten ... Das alles sind sehr schwierige Dinge, wenn man nichts sehen kann. Das kann man nur über ein spezielles Training erlernen."

Jeden Morgen sitzen Trainer und Klienten des RISS in der kleinen Teeküche beim Frühstück beisammen. Danach beginnt die Arbeit. Neben dem Training werden auch Mobilitätstraining und das Erlernen von Punktschrift angeboten. Außerdem kann man sich im Umgang mit dem Computer schulen lassen.

Bei Charly Maurer ist heute Lesen und Schreiben in Punktschrift dran. Gemeinsam mit der Trainerin begibt sich der schmächtige Mann um die vierzig in das Übungszimmer. "Heute habe ich für dich ein paar einzelne Wörter vorbereitet, Charly", sagt die Trainerin und legt ihrem Klienten einen DIN-A4-Bogen mit Punktschrift auf die rutschfeste Unterlage. Konzentriert lässt Charly seine Finger über die winzigkleinen Erhebungen gleiten. "Jede Braille-Zelle besteht aus sechs Punkten und stellt einen Buchstaben oder eine Zahl dar", erklärt die Trainerin. "Punkte an den Stellen 1 und 5 bedeuten zum Beispiel den Buchstaben I", ergänzt Charly, "deshalb verwechsle ich es immer mit dem E, das ist nämlich genau seitenverkehrt."

Charly leidet seit Geburt an Retinitis pigmentosa, einer Krankheit, die nicht nur den Sehsinn, sondern auch alle anderen Sinne mit der Zeit immer schwächer werden lässt. Früher war er Elektroinstallateur; diesen Beruf kann er wegen seiner Krankheit jetzt nicht mehr ausüben. Zur Zeit wohnt er im RISS und fährt jedes Wochenende zu seiner Familie nach Kapfenberg in der Steiermark.

Während Charly mit einer speziellen Schreibmaschine das Punktschriftschreiben übt, ist der Mobilitätstrainer Manfred Donner mit seiner Klientin Cornelia im Haus unterwegs. Beim Training wird viel gelacht. Gemeinsam erobern sie ein Stockwerk nach dem anderen. Manfred Donner ist zufrieden mit seiner 23-jährigen Klientin. "Wir üben erst den vierten Tag miteinander", erzählt er. "Am Beginn jedes Mobilitätstrainings erarbeite ich mit den Klienten die richtige Haltung des Langstockes und den Rhythmus der Pendelbewegungen. Zuerst bleiben wir hier im Haus, dann wagen wir uns nach und nach immer weiter vor. Zum Abschluss bekommt der Klient eine Aufgabe, die er allein bewältigen muss. Zum Beispiel mit der Straßenbahn zu einem bestimmten Geschäft zu fahren, dort etwas einzukaufen, und dann wieder ins RISS zurückzukommen. Das ist auch für den Trainer spannend, wenn er in der Zwischenzeit hier wartet."

Irreparable Schäden Gehen mit dem Langstock und Treppen hinaufsteigen hat Cornelia schon gelernt. "Heute kommt eine neue Lektion dazu: Abwärtstreppen", kündigt ihr der Trainer an. Treppen hinunter zu steigen ist bei vielen Blinden mit Angst verbunden. Diese Angst versucht der Trainer gemeinsam mit Cornelia zu überwinden. "Ich stelle mich auf die erste Stufe", sagt er, "und bevor du runterfällst, tippe ich dich leicht an der Schulter an. So kann dir nichts passieren." Mit Pendelbewegungen des Langstockes tastet Cornelia sich bis zum Treppenansatz vor. An der ersten Stufe sinkt der Stock etwas ab und bekommt einen leichten Schlag nach hinten. Cornelia folgt den Anweisungen des Trainers: Stock senkrecht halten, mit beiden Füßen bis zum Treppenrand vorgehen, dann hinuntersteigen und den Stock von Stufe zu Stufe schwingen zu lassen. Wenn der Stock schleift, ist die letzte Stufe erreicht. Cornelia lacht glücklich: Die Treppe ist geschafft.

Schlecht gesehen hat die junge Frau mit den grauen, leicht milchigen Augen schon immer. Der durch Grünen Star verursachte erhöhte Augendruck fügte dem Sehnerv irreparable Schäden zu. Dennoch: Früher konnte Cornelia eigentlich alles machen, auch Schule, Matura, und kaufmännische Lehre waren kein Problem. Doch einen Tag nach ihrem 23. Geburtstag sah sie auf einmal fast nichts mehr. Obwohl der Augendruck mit Medikamenten gesenkt werden konnte, wurde es immer schlimmer. Heute hat Cornelia nur noch ein bis drei Prozent der vollen Sehkraft zur Verfügung. Hell und Dunkel kann sie unterscheiden, Umrisse wahrnehmen, besonders kräftige Farben erkennen. Mehr nicht.

Späterblindeten wie Cornelia ihre Mobilität zurück zu geben ist einfach im Vergleich zur Arbeit mit Geburtsblinden. "Späterblindete können auf ihre visuellen Erfahrungen zurückgreifen", erklärt der Trainer Manfred Donner, "bei Menschen, die von Geburt an blind sind, ist es viel schwieriger. Da muss man damit anfangen, ganz einfache Begriffe zu klären, etwa: Was ist eine Kreuzung? Wie groß ist ein Auto? Welche Phasen hat eine Ampel? Dinge, die für Sehende ganz selbstverständlich sind."

Etwa 200.000 Menschen in Österreich sind schwer sehbehindert, 7.800 davon praktisch blind und 4.600 an beiden Augen vollblind. Die Ursachen und Ausprägungen der Sehbehinderung sind vielfältig. Nur jeder sechste Blinde hat von Geburt an kein Sehvermögen. Die anderen haben ihr Augenlicht durch Krankheiten, Unfälle oder Schlaganfälle verloren.

Was sich die Blinden von den Sehenden wünschen? "Es wäre so einfach", meint Charly lächelnd, "wenn mir zum Beispiel der Kellner im Restaurant beschreiben würde, wie das Essen am Teller angeordnet ist. Oder wenn mir die Kassierin beim Billa das Wechselgeld in die Hand geben würde, statt es einfach vor mich hin zu legen ..."

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