Das wohl verwahrte Böse

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In den heimischen Gefängnissen nimmt die Zahl jugendlicher Häftlinge - bei stagnierendem Personalstand - dramatisch zu. Während sogar die Justizministerin den "Verwahrvollzug" kritisiert, bleiben Maßnahmen zur Haftvermeidung aus.

Meinrad Pieczkowski zwingt sich zu Zweckoptimismus: "Die Misere hat auch eine positive Seite - wir haben beim täglichen Gottesdienst zumindest volles Haus." Ansonsten kann der langjährige katholische Gefangenenseelsorger den Zuständen an seinem Arbeitsplatz, der Wiener Justizanstalt Josefstadt, nur wenig abgewinnen. Kein Wunder: Seit Jahren steigt hier die Zahl der Häftlinge stetig an - bei gleichbleibendem Personalstand. War das "Graue Haus" ursprünglich für 930 Häftlinge vorgesehen, so befanden sich mit Stichtag 16. Juli genau 1.177 Personen - davon die Mehrzahl Untersuchungshäftlinge - in der Justizanstalt. Die Folgen dieses Missverhältnisses für die Gefängnisinsassen sind fatal, weiß Seelsorger Pieczkowski: "Um 14 Uhr wird das Abendessen an die Untersuchungshäftlinge ausgeteilt. Und dann wird zugesperrt."

Zum Nichtstun verdammt

Vor allem die Jugendabteilung, die mit der Schließung des Jugendgerichtshofs Anfang 2003 in die Josefstadt übersiedelt ist, platzt aus allen Nähten. Allein seit vergangenem September hat sich die Zahl der 14- bis 18-jährigen U-Häftlinge fast verdoppelt - auf derzeit109. Dazu kommen 136 junge Erwachsene zwischen 18 und 21 Jahren, die auf ihre Gerichtsverhandlung oder Freilassung warten.

Schon in der aufgelösten Jugendjustizanstalt Erdberg waren die Zustände nicht rosig: Auch dort wurden die Zellen um 17 Uhr verriegelt. Dennoch gab es zumindest Lehrwerkstätten und ein tägliches Bewegungsangebot. Nicht so in der Josefstadt: Hier sind die jungen U-Häftlinge aus Personalmangel zum Nichtstun verurteilt. Ein Schwebezustand, der sich bei den ohnehin labilen Jugendlichen weiter auf die Psyche schlägt. Schon jetzt sind 30 bis 40 Prozent der jungen Insassen psychisch auffällig, warnt Anstaltsleiter Peter Prechtl. Gemeinsam mit der Jugendpsychiaterin Belinda Plattner, die die jugendlichen Gefangenen in der Josefstadt betreut, fordert er deshalb eine eigene Einrichtung, etwa auf der Baumgartner Höhe, wo diese Personen adäquat behandelt werden können.

Spital statt Gefängnis

"Wir gehen davon aus, dass in Österreich Bedarf für rund 20 solche Betreuungsplätze besteht", glaubt der Kinder- und Jugendpsychiater Max Friedrich. Während für psychisch kranke Erwachsene die Justizanstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher in Göllersdorf zur Verfügung stehe, gebe es für psychisch kranke Jugendliche keine entsprechende Institution. Das Justizwachepersonal sei jedenfalls mit der Betreuung solcher Häftlinge heillos überfordert, so Friedrich.

Nicht nur auf psychisch kranke Jugendliche wirkt ein Gefängnisaufenthalt vollkommen kontraproduktiv. Auch auf "normale" jugendliche Straftäter, die "nur" unter Persönlichkeitsentwicklungsstörungen leiden, hat eine Freiheitsstrafe weit reichende Folgen: "Das Problem beim Wegsperren ist, dass hier der Jugendliche in einer Entwicklungsphase, in der er sich in Suchprozessen nach seinem Ich, nach Vorbildern, nach Intimität befindet, schwerst gehandicapt wird", warnt Max Friedrich.

Nachdem eine gefängnislose Gesellschaft aber eine Utopie sei, wäre zumindest ein jugendadäquater Strafvollzug inklusive Sport- und Beschäftigungsmöglichkeiten geboten, fordert der Psychiater. "Es hat eben gute Gründe gegeben, warum so heftig gegen die Schließung des Jugendgerichtshofs protestiert wurde: Denn genau hier waren diese Punkte erfüllt."

Die neue Justizministerin Karin Miklautsch (FPÖ) denkt indes nicht daran, den von ihrem Vorgänger Dieter Böhmdorfer aufgelösten Jugendgerichtshof wiederherzustellen: So soll das geplante, zweite Wiener Straflandesgericht nicht als "spezieller Jugendgerichtshof mit einer eigenen Jugendstrafanstalt" eingerichtet werden", sondern nur "den eklatanten Überbelag in der Ostregion und im Wiener Raum entschärfen", erklärt Wolfgang Gödl, für den Jugendvollzug zuständiger Abteilungsleiter im Justizministerium. Dass in den heimischen Gefängnissen dringend zusätzliches Personal benötigt wird, liegt für Ministerin Miklautsch freilich auf der Hand: "Wir sind in einem Verwahrvollzug. Das ist nicht das, was wir wollen", gestand sie der Kleinen Zeitung.

Drogendealer als Opfer?

Tatsächlich geht die Häftlingszunahme der letzten Jahre - von 7.000 auf derzeit 8.400 Insassen - großteils auf eine Zunahme jugendlicher Häftlinge zurück: Nach einer aktuellen Studie von Arno Pilgram vom Wiener Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie ist die Zahl der inhaftierten Jugendlichen zwischen 2000 und 2002 bundesweit um 66 Prozent angestiegen - in Wien sogar um 74 Prozent. Bei den Erwachsenen waren es hingegen nur 4,2 Prozent.

Einen Großteil dieses dramatischen Anstiegs unter Jugendlichen machen Personen aus osteuropäischen Nicht-EU-Ländern und Afrika aus. Gerade bei Schwarzafrikanern sei die Haftschwelle sehr niedrig, heißt es in der Studie: "Sie müssen auch bei geringfügigen Straftaten und Straferwartungen mit Haftzumutung und -erfahrung rechnen."

Der Wiener Jugendrichter Norbert Gerstberger weiß von diesen Mechanismen: Auf Grund der geänderten Judikatur werde in Wien "jeder kleine Straßendealer in Haft genommen". Viele dieser Personen seien Schwarzafrikaner, die über keine Papiere verfügten und sich als Jugendliche ausgeben würden. Tatsache sei, dass das Fremdenrecht diesen Personen keinen Spielraum eröffne, so Gerstberger: "Sie sind meist illegal im Land, haben keine Integrationsmöglichkeit und sind daher leichte Spielmasse für die Drogenmafia - als billiges Verteilernetz auf der Straße."

Eine schnelle Lösung für dieses Problem - und den Anstieg der Häftlingszahlen insgesamt - sieht Jugendrichter Gerstberger nicht. Der Bau neuer Gefängnisse greife freilich zu kurz: "Genauso wie neue Autobahnen mehr Verkehr anziehen, ziehen neue Gefängnisse mehr Häftlinge an." Vielversprechender sei es, Möglichkeiten der Haftvermeidung anzudenken. "Aber die Frage ist, ob das politisch gewünscht wird." Bislang sei mit der Absenkung der Grenzmengen im Suchtmittelbereich und der Senkung des Strafalters von 19 auf 18 Jahre eher daran gearbeitet worden, die Häftlingszahlen in die Höhe zu treiben. Aber auch die Richter müssten sich laut Gerstberger selbstkritisch fragen, "ob es in jedem Fall wirklich notwendig ist, Haft zu verhängen, oder ob nicht das Instrument der bedingten Entlassung großzügiger gehandhabt werden könnte."

Sühnen bis zuletzt?

Genau das haben in der Vorwoche die Grünen gefordert: Während in der Schweiz 92 Prozent und in Deutschland die Hälfte der Strafgefangenen bedingt entlassen würden, liege die Quote in Österreich nur bei 20 Prozent. Eine Änderung dieser rigiden Praxis würde sich doppelt positiv auswirken: So hätten bei einer Steigerung der bedingten Entlassungen auch mehr Personen Anspruch auf Bewährungshilfe - und könnten somit leichter aus dem Teufelskreis zwischen Abhängigkeit im Gefängnis und Hilflosigkeit in der Freiheit ausbrechen.

An solche Visionen von Resozialisierung klammert sich auch Matthias Geist - neben Meinrad Pieczkowski einer von sieben Gefangenenseelsorgern, die im "Grauen Haus" und den drei anderen Wiener Justizanstalten rund 1.800 Häftlinge betreuen. Der evangelische Pfarrer hofft auf ein generelles Umdenken, was den "Sinn" von Haftstrafen betrifft: "In der Gesellschaft, bei Gericht und beim Häftling selbst herrscht noch immer der Gedanke: Im Gefängnis wird etwas gesühnt. Doch das ist völlig überholt", so Geist. Vielmehr gehe es darum, den Häftling mit seiner Tat zu konfrontieren und zur Selbstverantwortung hinzuführen. "Sonst sitzt er 20 Jahre im Gefängnis - und geht nach 20 Jahren mit dem gleichen Problem wieder hinaus."

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