Otfried Höffe: "Den Kuchen muss jemand backen"

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Der Tübinger Philosoph Otfried Höffe über die Konzepte und Voraussetzungen von Fairness und Gerechtigkeit.

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Der Tübinger Philosoph Otfried Höffe über die Konzepte und Voraussetzungen von Fairness und Gerechtigkeit.

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Kaum eine Wahlkampfrede kommt ohne die Schlagworte "gerecht" und "fair" aus. Was aber bedeuten diese Begriffe? Nach dem Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls gilt der Tübinger Philosoph Otfried Höffe als bedeutender Denker in dieser Frage. Im FURCHE-Interview erklärt er, warum Gerechtigkeit mehr ist als das Verteilen von gleich großen Kuchenstücken.

DIE FURCHE: Herr Professor Höffe, bei uns ist Wahlkampf. "Gerechtigkeit" und "Fairness" sind wohl die wichtigsten Schlagwörter. Was sagt dazu ein Philosoph?

Otfried Höffe: Gerechtigkeit ist ein zentraler Begriff menschlichen Zusammenlebens. Es ist das moralische Kriterium für die Kerngrammatik des Zusammenlebens, dem Recht. Insofern finde ich es völlig in Ordnung, dass sich wahlwerbende Politiker auf "Fairness" und "Gerechtigkeit" berufen. Allerdings sind diese Begriffe sehr offen, sie rufen unterschiedliche Assoziationen hervor, daher weiß man nicht genau, was eigentlich damit gemeint ist.

DIE FURCHE: Was ist für Sie "gerecht" und wie könnte man den Begriff von "fair" abgrenzen?

Höffe: Die Abgrenzung ist insofern nicht leicht, als der wichtigste Gerechtigkeitstheoretiker der letzten Jahrzehnte, John Rawls, "Gerechtigkeit" gerade als "Fairness" definiert hat. Fairness kommt eigentlich aus dem Sport und bedeutet, dass wir nicht nur gemäß den Regeln handeln, sondern auch jene Chancen, sich außerhalb der Regeln zu bewegen, nicht ausnutzen, etwa wenn der Schiedsrichter gerade mal wegschaut …

DIE FURCHE: … und würde man dann auch schon gerecht handeln?

Höffe: Gerechtigkeit ist der allgemeinere Begriff. Es ist zunächst etwas Bescheidenes. Die Vorsilbe "Ge-" verstärkt den Ausdruck "Recht". "Gerechtigkeit" bedeutet einerseits, von einer einzelnen Person aus gesehen, "Rechtschaffenheit": dass man nach Recht, Gesetz und gewissen moralischen Vorgaben einer bestimmten Gesellschaft handelt. Andererseits richtet sich der Begriff auch auf die Institutionen eines Gemeinwesens, angefangen mit der Justiz. Später wird der Ausdruck "Gerechtigkeit" anspruchsvoller. Er bleibt nicht länger nur das Prinzip des rechtskonformen Verhaltens und der Rechtschaffenheit. Er bezeichnet auch die Grundsätze für das Recht, einer der wichtigsten Grundsätze sind die Menschenrechte …

DIE FURCHE: … die ja universell gelten sollten. Was halten Sie vom "Gerechtigkeitsgefühl"?

Höffe: Das ist ein schwieriger Begriff. Allerdings wird die "Gerechtigkeit" in den verschiedensten Kulturen gleichermaßen anerkannt, und die Menschen entwickeln schon in sehr jungem Alter ein Verständnis für Gerechtigkeit. Der Begriff hat mit Wechselseitigkeit zu tun: "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg' auch keinem andern zu." Diese Goldene Regel findet sich in allen Kulturen. Ein Gerechtigkeitsgefühl ergibt sich wohl aus der Natur des Menschen als Sozial- und als Sprachwesen. In seiner Freiheit sucht der Mensch aber auch immer wieder nach Ausnahmen, um sein Gewissen und die anderen Menschen auszutricksen.

DIE FURCHE: Gerechtigkeit bedingt laut Rawls Gleichheit und Freiheit. In welchem Verhältnis stehen diese Werte zueinander?

Höffe: Recht ist die Kerngrammatik des Zusammenlebens. Gerechtigkeit ist der Grundsatz der Richtigkeit dieses Zusammenlebens. Die Menschenrechte wiederum sind der Versuch auszubuchstabieren, was in diesem Dreieck - Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit - konkreter zu sagen ist.

DIE FURCHE: Inwiefern unterscheidet sich Ihr Gerechtigkeitsbegriff von John Rawls' Theorie?

Höffe: Der grundlegende Begriff ist derselbe: das ist der Gedanke der Gleichheit und Unparteilichkeit. Rawls hat ihn durch sein Gedankenexperiment - dem "Schleier des Nichtwissens" - in ein neues Bild gebracht. Schon davor gab es das Bild der Göttin Justitia, deren Augen verbunden sind. Der "Schleier des Nichtwissens" besagt: Welchen Gesellschaftsvertrag würden Menschen vereinbaren, wenn sie nicht wüssten, welche Stelle sie selbst in dieser Ordnung einnehmen würden. Rawls stellt noch zwei Prinzipien auf: jenes der größten gleichen Freiheit, also im Wesentlichen die Menschen- und Grundrechte, und jenes der erlaubten Unterschiede. Ungleichheit ist nur unter zwei Bedingungen erlaubt: Alle müssen das Recht haben, vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden oder Präsident der USA. Wirtschaftliche Unterschiede sind dann erlaubt, wenn sie letztlich den Schlechtestgestellten am meisten zugutekommen. Im letzten Punkt, der generell ein Streitpunkt ist, unterscheide ich mich von Rawls.

DIE FURCHE: Inwiefern?

Höffe: Dass in einer Gesellschaft die Ärmsten auch vom Wohlstand profitieren sollen, ist richtig. Aber die Frage ist, ob deren Maximierung das einzige und leitende Kriterium sein kann. Man könnte auch fragen, wie ergeht es dem Durchschnitt? Ein noch größerer Unterschied zu Rawls besteht in meinem Gedanken der politischen Gerechtigkeit. Er bedeutet, dass Gerechtigkeit ein Prinzip eines Gemeinwesens ist, dem Zwangsbefugnisse zukommen, die, wie im Strafrecht, im Steuerrecht oder beim Militärdienst, der Rechtfertigung bedürfen. Der Versuch, diese Zwangsbefugnisse, also eine Herrschaft von Menschen über Menschen, zu rechtfertigen, fehlt bei Rawls. Der Versuch fehlt auch in der Frankfurter Schule. Das ist merkwürdig. Sie alle anerkennen vermutlich eine (demokratische) Herrschaft, sehen aber nicht, dass es dazu einer Legitimation bedarf.

DIE FURCHE: Was legitimiert Herrschaft mit Zwangsbefugnissen?

Höffe: Sie muss von den Betroffenen selbst ausgehen (Demokratie) und zugunsten der Betroffenen ausgeübt werden. Herrschaft ist nur dann für die Betroffenen von Vorteil, wenn das Recht an die Stelle von Willkür und Gewalt tritt und wenn sie auf universalen Prinzipien politischer Gerechtigkeit wie den Menschenrechten (negativen und positiven Freiheitsrechten) basiert.

DIE FURCHE: Rawls betont mehr die Verteilungsgerechtigkeit - also die Umverteilung von Reichen zu Armen, wie auch - um den Kreis zu schließen - unsere Politiker und Politikerinnen.

Höffe: Hier besteht ein weiterer Unterschied zu Rawls. Man denke an das Beispiel mit dem Kuchen, von dem jeder ein möglichst großes Stück bekommen soll. Man vergisst dabei, dass der Kuchen auch hergestellt werden muss. Wir brauchen Zutaten und Energie, die auch erarbeitet werden müssen. Bei der Verteilungsgerechtigkeit besteht die Gefahr, dass zu statisch gedacht wird: "Wie verteilen wir das, was heute existiert?" Zum menschlichen Leben gehört aber eine Dynamik: "Wie machen wir den Kuchen möglichst groß und schauen gleichzeitig, dass jeder was abbekommt und dass, wenn der Kuchen größer wird, auch jeder mehr erhält."

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