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Zweimal wurde der tschetschenische Schriftsteller Musa Geschajew aus seiner Heimat vertrieben; seit elf Jahren lebt er in Moskau. Mit seinem Schaffen ist er zu einer Stimme für sein Volk geworden. Das Interview über Literatur wird auch zu einem Gespräch über den Krieg und die Lügen. Geschajew beginnt es vor der ersten Frage.

Musa Geschajew: In der Situation in Tschetschenien hat sich absolut nichts gebessert. Nach den letzten Terroranschlägen begannen die Säuberungen wieder, die Leute verschwinden. Immer die absolut Unschuldigen, weit weniger unter den Kämpfern. Jeden Tag junge Männer - 16 Jahre, 20 Jahre alt. Als wäre das Ziel vorgegeben, möglichst viel männliche Bevölkerung in Tschetschenien zu töten.

Ich verstehe, warum die Welt schweigt: Erstens will man sich nicht mit Russland anlegen. Zweitens aber kommt die Tragödie der ganzen Welt entgegen. Russland hat in den letzten vier Jahren mehr als 13 Milliarden Dollar in diesen Krieg investiert - das schwächt Russland und sein Militär. Ein General aus dem Generalstab sagte mir, man habe einen Brief der cia abgefangen, wo ausdrücklich geschrieben steht, dass dieser Konflikt schwelen sollte. Also wird er so lange schwelen, wie er gebraucht wird.

Die Furche: War die Geiselnahme der Schulkinder von Beslan im Herbst 2004 kein Umbruch?

Geschajew: Immer, wenn die Regierung was tun will, passiert eine Explosion oder Katastrophe. Es ist kein Umbruch, das haben sie nur aufgeblasen. Bedenken Sie: Bisher wurden 42.500 tschetschnische Kinder getötet. Über 8000 Kinder sind Invaliden. Selbst der getötete Präsident Achmed Kadyrow sagte, dass 72.000 Zivilisten getötet wurden.

Aber Beslan hatte doch eine gewisse Wirkung auf Putin und andere. Es war ein riesiger Schlag und hat sehr viele zum Nachdenken gebracht.

Die Furche: Was muss für einen Umbruch im Bewusstsein passieren?

Geschajew: Den Wodka verbieten. Dann geht das Volk auf die Straße. Ansonsten kann vorgehen, was will. Es vergeht eine Woche, sie trinken Wodka und vergessen alles.

Die Furche: Gäbe man Ihnen zwei Minunten im gesamtrussischen Fernsehen: Was würden Sie sagen?

Geschajew: Ich würde Verhandlungen fordern. Und fragen, wann die Staatsmacht uns die Wahrheit über die Ereignisse sagt.

Die Furche: Nimmt der Nationalismus gegen Tschetschenen in Russland zu?

Geschajew: Der wird weitergehen, weil ihn niemand abstellt. Nicht nur gegen Tschetschenen, die wehren sich im übrigen ohnehin. Aber die Schwarzen, Araber und Tadschiken wehren sich nicht.

Die Furche: Welche Rolle hat die Kunst und die Intelligenz für den Konflikt gespielt?

Geschajew: Ich habe einen Brief, geschrieben von Kämpfern - sie sagen, dass ich mit meinen Büchern mehr bewirke als sie. Ich will in meinen Büchern vorstellen, wer wir sind - dass wir nicht schlechter sind als die anderen Völker. Denn die Russen versuchen, uns als Banditen hinzustellen. Aber ich rufe die Leute nicht zum Kampf, sondern zum Frieden auf. Denn nur mit zivilisierten Mitteln können wir etwas gewinnen und die Freiheit erlangen. Leider dreht sich die Gewaltspirale weiter. Je mehr die Russen töten, umso mehr laufen die tschetschenischen Leute zu den Rebellen über.

Die Furche: In Ihren Gedichten spielt Patriotismus eine große Rolle, da begegnet gar der Stolz, "in der Schlacht den Sohn verloren zu haben". Uns machen solche Töne skeptisch.

Geschajew: Ich verstehe, dass das für den Westen etwas seltsam klingt. Warum ich dem eine große Bedeutung beimesse ist, weil das Volk derzeit kämpft und ein Krieg stattfindet und seit 300 Jahren Druck auf uns ausgeübt wird.

Die Furche: Sehen Sie irgendwo in der russischen Literatur eine Reaktion auf den Tschetschenienkonflikt?

Geschajew: Künstler reden durchaus darüber. Aber es gibt eine gewisse Zensur, dass sie nicht in die Medien kommen. Nur das hätte Wirkung, der Literatur schenkt heute keiner Beachtung. Als es wirkliche Zensur gab, hörte man auf das Wort der Literaten und Künstler.

Die Furche: Wie reagiert man in Tschetschenien auf Ihre Bücher?

Geschajew: Eigentlich schreibe ich für mich, aber ich weiß: Wenn es mir gefällt, gefällt es auch dem Leser. Leser sagen mir, dass meine Werke das Brot der Hoffnung auf die Zukunft sind. 3000 Bücher hat auch das tschetschenische Bildungsministerium gekauft; früher wollten sie mich dort nicht sehr. Von fast allen Schulen kommen Anfragen, ihnen Bücher zu senden. Uns Künstlern helfen die tschetschenischen Geschäftsleute. So wird wieder etwas vom tschetschenischen Kulturgeschehen auf die Beine gebracht; unsere Schriftsteller bringen viel heraus, hauptsächlich in Moskau, denn in Tschetschenien gibt es keine Verlage. Viele Künstler sind leider emigriert und viele tot.

Die Furche: Wie sieht es mit dem Erhalt der Kulturgüter aus?

Geschajew: Während man uns 1945 nach Kasachstan deportierte, verbrannten in Grosny drei Tage lang die wertvollsten Manuskripte und Bücher. Jetzt in diesem Krieg seit Anfang der 1990er Jahre haben sie das verbrannt, was 1945 zurückgeblieben ist. Kulturgüter wurden vorsätzlich zerstört. Als zweites nach der Bank wurde die große Bibliothek bombardiert. Auch meine über 35 Jahre angesammelte Bibliothek hat man vorsätzlich verbrannt.

Die Furche: Können Sie vom Verkauf Ihrer Bücher leben?

Geschajew: Ich habe das Glück - wohl als einziger tschetschenischer Schriftsteller. Jetzt schreibe ich ein politisches Porträt über den inguschischen Präsidenten Murat Sjasikov und eine Enzyklopädie für Inguschetien und Tschetschenien. Aber die Gedichte sind mir am wichtigsten. Sie schreibe ich auch manchmal auf Tschetschenisch, ansonsten schreibe ich ja vorwiegend auf Russisch.

Die Furche: Sie schrieben: Der Dichter hat immer genug Worte. Gibt es Momente, wo Sie verstummen?

Geschajew: Ja, das gibt es. Manchmal, wenn man die Lügen in unserem Fernsehen hört.

Das Gespräch führte Eduard Steiner.

Literarischer Botschafter Tschetscheniens

Musa Geschajew ist der renommierteste tschetschenische Schriftsteller. Viele seiner Gedichte wurden vertont und sind zu einem beliebten Liedgut in Tschetschenien geworden. Kaum vier Jahre alt, wurde er 1944 - wie das gesamte tschetschenische Volk - in einem Viehwaggon für 13 Jahre nach Kasachstan deportiert. Nach der Rückkehr in die Heimat arbeitete er als Lastwagenfahrer. Später studierte er in Leningrad (heute: Petersburg). Nach Abschluss des Theaterinstituts wurde er Direktor der Philharmonie in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Sein erster Gedichtband "Warteschlange zum Glück" erschien 1989. Weitere Gedichtbände: "Der Himmel ist umgekippt", "Die Halskette der Wünsche". In den letzten Jahren schrieb Geschajew neben Gedichten auch historische Essays. In seinem Buch "Berühmte Tschetschenen" legt er dar, welchen Beitrag Tschetschenen in Russlands Geschichte geliefert haben. 1999 wurden die ersten 2000 Exemplare - gedruckt in Belgien - bei der Einfuhr nach Russland monatelang auf dem Zoll festgehalten. Vor zwei Jahren schrieb Geschajew das erste umfassende kaukasische Kochbuch. Derzeit arbeitet er an einer Enzyklopädie über Tschetschenien und Inguschetien. Demnächst soll auch ein neuer Gedichtband erscheinen. Geschajew lebt seit elf Jahren in Moskau.

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