Denker in der Warteschleife

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Hochbegabung ist ein Geschenk - doch in Kindergärten und Schulen oftmals ein Problem.

Sie war drei, als sie zu lesen begann, und viereinhalb, als sie in krakeliger Schrift Buchstaben formte, Worte aneinander setzte und "Bücher" verfasste - samt isdn-Nummer und Verlag. "Ich durfte nur Linien ziehen, damit es schöner wird, und die Blätter zusammenheften", erinnert sich Roswitha Bergsmann an die Zeit, als ihr immer bewusster wurde, dass ihre heute 17-jährige Tochter ein bisschen anders ist. Genauso wie auch ihr 16 Jahre alter Sohn.

"Sie haben beide sehr früh sehr logisch gedacht und mich niederdiskutiert", erzählt die niederösterreichische Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie. Gemeinsame Ausflüge in den Tiergarten Schönbrunn seien bald nur mehr mit Hilfe von Fachbüchern zu bewerkstelligen gewesen. Schließlich fragten die beiden Kinder ihren Eltern Löcher in den Bauch - und gaben ihre Erkenntnisse postwendend weiter. "Mama, ich muss dir den Gepard zeigen, damit du nicht weiter glaubst, das sei ein Leopard", lautete eine jener Aufforderungen ihrer Tochter, die Bergsmann bis heute nicht vergessen hat. Ebenso wenig wie die kurzen Nächte: "Mein Mann und ich haben zeitweise Schichtdienst eingelegt, weil sie um zwei Uhr aufgewacht sind - und dann ist es bis fünf oder sechs Uhr durchgegangen." Eine "anstrengende, aber auch schöne" Zeit, bekennt Bergsmann, die schließlich eine Eltern-Selbsthilfegruppe gegründet hat, aus der 1994 der "Österreichische Verein für hochbegabte Kinder" hervorgegangen ist.

"Ist das normal?"

Der Verein, dem betroffene Eltern, aber auch Psychologinnen und Psychologen sowie Lehrerinnen und Lehrer angehören, soll heute jene Kämpfe mit Kindergärten und Schulbehörden verhindern helfen, die Familie Bergsmann ausfechten musste. Dabei war die eigene Unsicherheit ohnehin groß, erinnert sich die Psychiaterin: "Sind unsere Kinder normal?", habe sie sich gefragt. Oder einfach nur schneller? Die Weigerung vieler Kindergärten, ihre bereits lesenden und schreibenden Sprösslinge aufzunehmen, verstärkte noch die Ratlosigkeit. Schließlich traten die Bergsmanns den Weg nach vorne an: Gemeinsam mit ihrer knapp vierjährigen Tochter und einem dicken Ordner ihres schriftlichen und zeichnerischen Ruvres fuhren sie zum Hannoveraner Entwicklungspsychologen Klaus Urban, heute Präsident des "World Councils for Gifted and Talented Children". Nach einer umfassenden Testreihe stand das Ergebnis - eine sehr breitbandige Hochbegabung - fest. Den dazugehörigen iq-Wert verrät Bergsmann nicht: "Man geht ja auch in anderen Bereichen nicht mit Nummern spazieren. Außerdem ist ein Testergebnis nur eine Momentaufnahme, die eine Richtung anzeigt." Gegenüber ihren Kindern habe sie das Vokabel "höchstbegabt" jedenfalls tunlichst vermieden. "Ich habe nur gesagt: Ihr seid ein bisserl geschwinder unterwegs."

"Bilde dir nichts ein!"

Ihr selbst habe die Diagnose Höchstbegabung freilich geholfen, noch stärker hinter ihrer Tochter und ihrem Sohn - bei dem wenig später in Hannover ein ähnliches Test-Ergebnis ermittelt wurde - zu stehen. Vor allem dann, wenn es aus der Umgebung Vorwürfe gab. "Manche haben zu mir gesagt: ,Nimm deiner Tochter den Bleistift weg und bilde dir nichts ein, dass sie schreibt'", erinnert sich die Mutter. "Aber wir haben uns gar nichts eingebildet - und ich konnte ihr ja den Bleistift nicht einfach wegnehmen, wenn sie ihn haben wollte."

Nicht sehr hilfreich war die Diagnose bei der Suche nach einem Kindergartenplatz. Erst der internationale Kindergarten in Wien nahm die Tochter und später den Sohn auf. Ein Glücksfall, schließlich wurden die Geschwister in der deutsch-und englischsprachigen Umgebung gefordert. Freilich nicht allzu lang. Schon bald war die Tochter komplett zweisprachig und wurde "als Dauervorleserin und-Aufpasserin eingesetzt", erinnert sich ihre Mutter.

"Rücksicht auf mich!"

Schließlich kam es zu einem Schlüsselerlebnis: "Als ich einmal in den Kindergarten gekommen bin, hat mein Kind geschrien: ,Ich halt' das nicht mehr aus, immer dieses Warten und Rücksicht-Nehmen. Wann nimmt einmal einer Rücksicht auf mich?'" Die Mutter nahm Rücksicht - und meldete die Tochter vom Kindergarten ab. Eine junge Amerikanerin kümmerte sich fortan dreimal wöchentlich um die Kinder, nachmittags besuchten sie eine Kindergruppe sowie Schwimm-und Musikkurse, um ihre Sozialkompetenz zu schulen.

Doch zum Zeitpunkt der Einschulung tauchten wieder Probleme auf. Nachdem es für die im Mai geborene Karin (anders als für das "Dezemberkind" Paul) nicht möglich war, vorzeitig eingeschult zu werden und auch kein Überspringen der ersten Klasse vorgesehen war, wandte sich Bergsmann abermals an Klaus Urban. Dieser empfahl, die Tochter wegen des großen Lernvorsprungs in häuslichen Unterricht zu nehmen. Dasselbe empfahl die schulpsychologische Beratung in Niederösterreich.

Sowohl organisatorisch wie finanziell eine Mammutaufgabe, schließlich ist Hausunterricht in Österreich selbst zu finanzieren. Möglich wurde das Unterfangen schließlich dank einer Volksschullehrerin, die zweimal wöchentlich ins Haus kam. Zusätzlich beteiligten sich auch Bergsmann selbst und ihr Mann, ein pensionierter Internist, am Unterricht. Das Ergebnis wurde bei externen Prüfungen an einer Volksschule - "nicht sehr kinderfreundlich" - getestet.

Auch beim Übertritt in die ahs setzte sich das Ringen mit den Schulbehörden fort. So war es unmöglich, die 4. Klasse Volksschule oder 1. Klasse ahs zu überspringen. Schließlich sollte die Zwölfjährige, die bereits in der Jugendgruppe der Wasserrettung war und heute als Sanitäterin im Einsatz ist, Mitte der zweiten Klasse eingeschult werden. Doch nachdem so manche Zusagen nicht gehalten wurden und auch das Verständnis der Klassenkollegen für ihre neue Mitschülerin begrenzt war, entschied man sich wieder für den Hausunterricht.

"Mehr Chancengleichheit!"

Heute sind beide Jugendlichen an einer ahs als externe Schüler verzeichnet, besuchen dort die Wahlpflichtfächer und werden bald ihre Matura absolvieren. Ein glückliches Ende eines beschwerlichen Weges, ist Roswitha Bergsmann überzeugt: "Die Karin möchte dann Medizin machen und der Paul etwas Technisches."

Dass anderen Eltern hochbegabter Kinder - etwa durch das neue Schulpaket II (siehe Kasten) - zumindest an den Nahtstellen ein ständiges Verharren in Warteschleifen erspart bleibt, freut sie umso mehr. Zur vollen Zufriedenheit ist es freilich noch weit: "Man bräuchte im Schulwesen viel mehr Ressourcen, um alle Kinder - je nach ihren Begabungen - fördern zu können. Das hat nichts mit Elitebildung zu tun, sondern gehört zur Chancengleichheit", meint sie im furche-Gespräch. Vor allem wünscht sie sich, dass Kinder mit besonderen Begabungen nicht als "Wunderkinder" etikettiert - und damit unter unmenschlichen Leistungsdruck gestellt - werden. "Von ihnen wird dann verlangt, dass sie permanent funktionieren", klagt die Psychiaterin. "Aber Hochbegabte sind nicht immer lieb, nett und angepasst, sondern auch aufmüpfig, verliebt oder in der Pubertät gereizt. Wie alle anderen Kinder auch."

BUCHTIPP: HOCHBEGABUNG. Von Roswitha Bergsmann (Hg.), Österreichischer Verein für hochbegabte Kinder. Facultas, Wien 2000. 110 S., brosch.,

e 14,50. Kontakt: oevhk@aon.at.

Schule für Schnelle

Lange Zeit vernachlässigt, ist die Förderung hochbegabter Kinder in den letzten Jahren in den Fokus der Schulpolitik geraten. So wurde 1998 im Rahmen der Novelle des Schulunterrichtsgesetzes das Überspringen von Jahrgangsklassen erlaubt: je ein Mal in der Grundschule, in der Sekundarstufe I und in der Sekundarstufe II. Die Klassen an den "Nahtstellen" - zwischen Volksschule und Hauptschule oder ahs sowie später zur ahs-Oberstufe oder bhs - waren freilich ausgenommen. Erst das im Dezember vom Nationalrat beschlossene "Schulpaket II" beseitigte diese Schikane. Zudem können nicht mehr nur "Herbstkinder", sondern alle Kinder ein Jahr früher eingeschult werden. Die Initiative dazu kam u. a. von der "Bundeskonferenz Begabtenförderung" im Bildungsministerium (Leitung: Thomas Köhler), in der auch Roswitha Bergsmann als Stimme der Eltern vertreten ist.

Bereits 1996 wurde in Wien die "Sir-Karl-Popper-Schule für Hochbegabte" gegründet, 1999 folgte in Salzburg das "Österreichische Zentrum für Begabtenförderung und Begabungsforschung", das an exklusiven wie integrativen Förder-Modellen arbeitet. Nicht zuletzt sollen Lehrerinnen und Lehrer verstärkt Kurse nach den Regeln der echa (European Council for High Ability) erhalten. DH

Infos: www.begabtenzentrum.at

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