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Die moderne Medizin versteht sich immer mehr als Reparaturbetrieb und lässt kranke Menschen in ihrer Krise und Sinnsuche allein.

Krankwerden stürzt den Menschen in eine tiefe Krise. Die Selbstverständlichkeit, mit der er bis dahin in Gesundheit gelebt hat, wird gebrochen, alle bisherigen Perspektiven radikal infrage gestellt. Krankwerden kommt nicht nur zum Sein hinzu, es verändert es, es radikalisiert die Grunderfahrungen des Menschen und wirft letzte Fragen auf: nach dem Sinn des Leidens, nach dem Sinn des Lebens, nach dem Sinn des Ganzen. Krankwerden stellt sozusagen alles Bisherige auf den Kopf und fordert auf, neue Horizonte zu eröffnen und neue Prioritäten zu setzen.

Bei dieser notwendigen Neuorientierung werden viele krank gewordene Menschen von der modernen Medizin, die sich immer mehr als Reparaturbetrieb versteht, vollkommen allein gelassen. Viele fühlen sich ausgeliefert, nicht verstanden, im Stich gelassen, weil bei allen technischen und medizinischen Leistungen die existenzielle Krise des betroffenen Menschen nicht in den Blick genommen wird. Er sehnt sich auch nach Antworten und Annahme - und bekommt vielfach nur Rezepte.

Nehmen wir ein Beispiel: Ein Mensch, der an Krebs erkrankt, wird von der Medizin durchleuchtet, gerastert und erhält in aller Regel Chemotherapeutika. Bei bestimmten Formen des Lungenkrebses aber weiß man etwa sehr genau, dass eine Chemotherapie nur wenig bewirken wird. Dennoch verordnet man sie, weil sie ein Mittel ist, um dem Patienten Hoffnung zu spenden - und dem schwierigen Gespräch über die Grenze des Machbaren und das bevorstehende Sterben aus dem Weg zu gehen.

Sprachlosigkeit und Ökonomisierung

So wie in diesem Fall flüchtet sich die moderne Medizin oftmals in die "Technik“, weil sie sich im Umgang mit den letzten Fragen hilf- und sprachlos fühlt. Auf diese Weise aber versagt sie dem Patienten die Chance, sich auf sein nahendes Ende gut vorzubereiten und seine Zeit entsprechend sinnvoll zu gestalten. Ärztinnen und Ärzte meinen oftmals, Hoffnung nur über das Versprechen der Heilung gewähren zu können - und übersehen dabei, dass Hoffnung auch dadurch gespendet werden kann, dass man dem Patienten signalisiert, dass er nicht allein gelassen werden wird.

Ein Grund für diese Entwicklung ist einerseits die verbreitete Sprachlosigkeit im modernen Medizinbetrieb, aber auch eine zunehmende Ökonomisierung, die auch eine Beschleunigung aller Behandlungsschritte bedeutet. Es kommt zum Wegrationalisieren der Zeit für Gespräche und Zuwendung, aber auch zum Verdrängen all dessen, was nicht eindeutig nachgewiesen und gemessen werden kann. Ökonomisierung und naturwissenschaftliches Denken verstärken sich in dieser Entwicklung gegenseitig. Während die Medizin also ihren Fokus verstärkt auf den messbaren "Output“ legt, erklärt sie das Eigentliche zum verzichtbaren Luxus - nämlich die Gewissheit des Patienten, als Mensch verstanden und in seiner Ganzheit in den Blick genommen zu werden. Unter dem Druck dieses Systems erleben und verstehen sich auch viele Ärztinnen und Ärzte immer mehr als Ingenieure an einem defekten Apparat - und weniger als Begleiter.

Gerade ernsthaft kranke Menschen, die unweigerlich mit der Frage nach dem Sinn konfrontiert werden, brauchen freilich ein Gegenüber, das eine personale Beziehung zu ihnen aufbaut und sich auf sie und ihre Lebensgeschichte tatsächlich einlässt. Die Medizin benötigt daher dringend eine Sprengung des engen, naturwissenschaftlichen Denkens, wenn sie dem Patienten gerecht werden will.

Viktor Frankl hat treffend gesagt, dass der Mensch nicht durch das Leiden selbst, sondern nur durch das sinnlose Leiden zerstört wird. Dem Menschen dabei zu helfen, einen Weg zu finden, der das Leben mit einer Krankheit nicht als sinnlos begreifen lässt, wäre eine zentrale Aufgabe der Medizin. Doch sie ist - zugegeben - schwer: Krankheit ist immer das Nichtgewünschte, das Widerständige, das, was man lieber nicht erlebt; doch wenn es unabänderlich da ist, hat jeder Mensch die Chance, so auf die Krankheit zu reagieren, dass sie nicht restlos sinnlos bleibt. Krankheit kann dann wie ein lebensnotwendiger Hinweis sein, der auf die verwundbaren Punkte des Lebens verweist. Nicht selten ist es eine schwere Krankheit, die dem Menschen vor Augen führt, dass jeder Einzelne letztlich alles, was er ist, von einem Urgrund empfangen hat. Er hat sich nicht selbst gemacht; sein Leben ist nicht von ihm ausgesucht und von ihm gewollt; es ist ihm einfach gegeben worden. Das Ganze des Lebens ist eine Gabe, und nur dieses Gegebensein macht es möglich, dass der Mensch überhaupt etwas empfinden kann. Aus diesem Bewusstsein des Gegebenseins kann nicht zuletzt auch ein Gemeinschaftsgefühl mit den anderen Menschen erwachsen. Lässt man all diese Gefühle zu, so kann aus ihnen ein Grundempfinden der Dankbarkeit entstehen, das dem betroffenen Menschen den Weg zu einem erfüllten Leben in Krankheit öffnen kann.

Man kann all diese persönlichen Empfindungen nicht verordnen; aber man kann eine Atmosphäre schaffen, die ihr Aufkommen nicht behindert, wie dies in einem bloß auf Zweckrationalität ausgerichteten Gesundheitssystem wie dem unseren allzu oft der Fall ist. Ärztliches Handeln bedeutet doch letzten Endes, die innere Kraft des Patienten zuzulassen oder gar zu ermöglichen. Und auch der Patient selbst muss lernen, sich für das Wirksamwerden seiner inneren Heilkraft zu öffnen. Er braucht aber in seiner Not jemanden, der ihm dabei hilft, Ja zu sagen zu der Zeit, die kommen wird - und zugleich auch zu sich selbst und zu seinem Leben.

Hoffnung in der Lebensnot

Das Kranksein und das oft damit verbundene Sterbenmüssen ist ja nicht bloß eine Form der Sterbensnot, es ist eine Form der Lebensnot; das Sterben verweist auf das Leben, das man gelebt hat und das sich nicht noch einmal leben lässt. In dieser Not gilt es, Hoffnung und Zuversicht zu geben.

Der kranke Mensch bräuchte also Ärztinnen und Ärzte, der ihn aufschließen für seine innere Kraft, die Krankheit eben nicht nur wegmachen zu lassen, sondern sie gar zu überwinden, indem sie dort, wo sie nicht mehr geheilt werden kann, als Bestandteil des eigenen Lebens angenommen wird. In dieser Haltung der Annahme wird der Kranke befähigt, mit der Krankheit zu leben, anstatt das Leben durch einen ausweglosen Kampf gegen die unbesiegbare Krankheit gerade zu verhindern. Eine humane Medizin kann deshalb nur dann realisiert werden, wenn sie zwar Mittel bereitstellt, um Krankheiten dort zu bekämpfen, wo es geht - zugleich aber mit Augenmaß das anerkennt, was als schicksalhaft Gegebenes vor allem innerlich zu bewältigen ist.

* Der Autor ist Professor für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau.

Tagung

Im Rahmen des Symposiums "Mensch, Gesundheit, Medizin“ im Salzburger Bildungshaus St. Virgil hält Giovanni Maio heute, 31. Jänner, um 19 Uhr den Festvortrag. (vgl. www.virgil.at)

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