Der Bedürftigkeitsstaat führt zu sozialer Spaltung

19451960198020002020

Wer von sozialer Gerechtigkeit spricht, kann nicht an der Zweiklassengesellschaft bauen, in der nur die Armenfürsorge bleibt.

19451960198020002020

Wer von sozialer Gerechtigkeit spricht, kann nicht an der Zweiklassengesellschaft bauen, in der nur die Armenfürsorge bleibt.

Werbung
Werbung
Werbung

Diejenigen Staaten, deren Sozialsysteme sich in erster Linie an "Treffsicherheit" orientieren wie England oder die USA, haben die höchsten Armutsquoten. Staaten mit egalitärem Bildungssystem und der Absicherung sozialer Risiken für weitere Bevölkerungskreise weisen hingegen geringere Armut auf. Es sind nicht die Sozialleistungen alleine, die die Schwächeren einer Gesellschaft stützen. Entscheidend ist die öffentliche Infrastruktur: Bildungszugang für alle, ein gut ausgebautes Gesundheitswesen, Kinderbetreungseinrichtungen, öffentliche Verkehrsmittel vor allem in ländlichen Regionen und vieles mehr.

Soziale Maßnahmen, die nur auf Arme zielen, neigen dazu, armselige Maßnahmen zu werden: öffentliche, schlechte, traditionelle Schulen für die Einkommensschwachen; private, gute, reformpädagogische Schulen für die Wohlhabenden. Staatliche, miese Gesundheitsversorgung für die Ärmeren; private, engagierte Vorsorge für Reichere.

Da ist nicht mehr von Anspruchsberechtigung, sondern nur mehr von Bedürftigkeit - die andere definieren - die Rede. Der Bedürftigkeitsstaat führt in eine Gesellschaft mit starker sozialer Spaltung. Wer von sozialer Gerechtigkeit spricht, kann aber nicht an einer Zweiklassengesellschaft bauen. Nur allzu schnell verselbständigt sich der Trend weg von universellen sozialen Bürgerrechten hin zur selektiv bedürftigen Armenfürsorge.

Durch die Einbindung der "Reichen" wird die Bereitschaft, das Sozialsystem zu finanzieren, erhöht. Zu befürchten wäre, dass sich die aufstiegsmobilen Mittelschichten, wenn sie einzahlen, aber nichts herausbekommen, vom sozialen Ausgleich überhaupt verabschieden. In der Bedürftigkeitsfalle verlieren Sozialprogramme leicht die gesellschaftliche Unterstützung. In den USA wurde die Unterstützung für Familien und Kinder, die in Armut leben, abgeschafft. Das Programm war zu 100 Prozent zielgerichtet und genießt trotzdem - oder deswegen - keine politische und gesellschaftliche Unterstützung.

Der Begriff Treffsicherheit taugt nicht zur hinreichenden Analyse: die Schlüsselbegriffe Existenzsicherung, soziale Integration, Beitragsgerechtigkeit fehlen. Und wer von Treffsicherheit spricht, darf zur Armutsbekämpfung nicht schweigen. Wer nicht die Modernisierung des unteren sozialen Netzes im Blick hat, keine Reform der Sozialhilfe, keine experimentelle Arbeitsmarktpolitik für Benachteiligte, keine Maßnahmen für Alleinerzieherinnen, der kann nicht davon sprechen, "für diejenigen, die es brauchen", da zu sein. Der Sozialstaat behindert die Wirtschaft, sagt man. Der soziale Ausgleich produziert Budgetdefizite, heißt es. Dänemark zeigt, dass eine starke Sozialquote (um vier Prozent höher als Östereich), hohe Produktivität und ein ausgeglichenes Budget möglich sind.

In dem am 4. Juli präsentierten Papier der Expertenkomission zur sozialen Treffsicherheit wird für die Etablierung sozialer Standards in der Sozialhilfe argumentiert; Vorschläge zu einem Mindestarbeitslosengeld gemacht; die Verbesserung der Situation von Frauen (mit Kindern) verlangt, die arbeiten und trotzdem nicht genug zum Leben haben; Wege zur Beseitigung der Integrationshürden für Zuwanderer aufgezeigt und auf die Lücke extramuraler (außerhalb von Anstalten) sozialer Dienste für psychisch Kranke hingewiesen. Diese Vorschläge, die von vielen Experten eingebracht wurden, sind jetzt nicht mehr Gegenstand der Debatte.

Die bisherigen Maßnahmen der Regierung haben Ärmere stärker getroffen als Reichere. Es besteht der nicht unbegründete Verdacht, dass unter dem Schlagwort "Treffsicherheit" Sozialleistungen gekürzt werden, ohne sie den Ärmeren zugute kommen zu lassen. Davon haben die, die es brauchen, nichts. Wenn Treffsicherheit nicht die Lebensbedingungen der untersten Einkommensbezieher verbessert, handelt es sich nur um einen prächtig inszenierten Sozialschmäh.

Der Autor ist Sozialexperte der Diakonie Österreich, Mitinitiator der Armutskonferenz und war in die Expertenkomission zur sozialen Treffsicherheit geladen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung