Der Blick In Abgründe

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ELIAS HIRSCHL ERZÄHLT VON JENEN, DIE SICH AUS UNSERER WIRKLICHKEIT VERABSCHIEDET HABEN, UM SICH IN EINE EIGENE ZURÜCKZUZIEHEN.

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ELIAS HIRSCHL ERZÄHLT VON JENEN, DIE SICH AUS UNSERER WIRKLICHKEIT VERABSCHIEDET HABEN, UM SICH IN EINE EIGENE ZURÜCKZUZIEHEN.

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Es ist eine starre Welt, Änderung ist nicht vorgesehen. Jeder hat seinen Tick, alle stellen auf ganz eigene Weise ihre Umwelt auf den Kopf, aber sie bleiben berechenbar. Sie leben in einer WG, wo jeder ein eigenes Zimmer bewohnt, betreut wird, einigen Freiraum genießt und wo ihre psychischen Auffälligkeiten toleriert werden. Die meiste Zeit bleiben sie isoliert von der Außenwelt, an Kontakten außerhalb ihrer kleinen Wohneinheit sind sie sowieso nicht interessiert. Einmal in der Woche geht es ins Kaffeehaus, das wird zur turbulenten Veranstaltung, recht beliebt bei den Heimbewohnern, so kommt Abwechslung in den Alltag. Eine "ausgeprägte Hassliebe" bindet die Klienten an das Personal des Lokals, bilden sie doch eine "kaufkräftige Konsumentengruppe" und gleichzeitig "die problematischsten Kunden, die man sich vorstellen kann." Deren Leben sonst ist doch recht eintönig. Einer sammelt Schreibmaschinen und Taschen, verstaut sie im Zimmer, maßt sich damit Bedeutung an. Ein anderer schwingt sich rhetorisch zu aberwitzig ausgeklügelten Theorien auf, bestechend in ihrer inneren Logik und doch der reine Unsinn. Eine macht als Heulsuse von sich reden, trauert um ihre Mutter, die sie kaum je besucht, eine andere verschafft sich Luft in Wutattacken, in welchen ein erheblicher Fluchwortschatz zutage tritt. Einer zieht sich gern zurück ins Zimmer, bleibt Einzelgänger im Kollektiv der Nervensägen, während sich ein anderer in Genügsamkeit übt und bei jeder Gelegenheit wissen will, wann endlich Weihnachten naht.

Routine und Kontrolle

Wenn einmal einer ausrastet, Mobiliar zerschlägt, andere attackiert oder sich der effektvollen Kunst der Selbstverletzung hingibt, weiß das Personal damit umzugehen. Die Angestellten halten alles unter Kontrolle, sie wissen, was von jedem zu erwarten ist, die Überraschungseffekte sind gering, hat man einmal die Verhaltensmuster eines jeden Einzelnen durchschaut. Nichts ist so, wie es außerhalb dieser Einrichtung ist, aber hat sich Gewöhnung an den Ausnahmezustand durchgesetzt, ist das Leben dort kalkulier-und vorhersehbar. Und mittendrin der Zivi. Er ist der Einzige, der dem Betrieb nur auf absehbare Zeit erhalten bleibt. Die anderen finden sich damit ab, einen Modus zu finden, der sie funktionieren lässt, um über möglicherweise ein ganzes Berufsleben mit psychisch stark Angeschlagenen zu kommen. Es haben sich Regeln eingespielt, die den Tag strukturieren. Gedanken an die Betroffenen werden nicht verschwendet. Das bleibt dem Zivi überlassen, der unter dem Einfluss des Außerordentlichen nicht nur selbst einen Wandel durchmacht, sondern auch noch wissen möchte, wie die Klienten zu solch aus der Normalität gefallenen Charakteren werden konnten. Das macht dem Mehrwert an Literatur aus, dass nicht nur Menschen mit auffallendem Verhalten beschrieben werden, sondern dass sie als Persönlichkeiten wahrgenommen werden, die auf einer vorläufigen Station ihres Lebens angekommen sind.

Ausgedachte Biografien

Da war doch noch was. Ein Leben vor der Abschiebung ins Heim, eine Biografie, in der sich etwas ereignet hat, was einen Absturz ins tiefe Loch der Existenz begünstigt hat. Der Zivi denkt sich Kindheitsepisoden aus, die als Abglanz im heutigen Menschen verblieben sind. Die kleine Melli schafft es nicht, ihre Schuhbänder zu binden, denkt sich der Zivi eine Geschichte aus, sie nimmt an einem Kurs teil, wo sie verschiedene komplizierte Knoten zu knüpfen lernt und versucht sich zu erhängen.

Natürlich ist das krude zusammengedacht, aber mehr hat der Zivi nicht in der Hand, um zu bewältigen, was auf ihn jeden Tag einstürmt. Er sieht in keiner Person einen reinen Fall, er romantisiert sie im Verlauf einer anrührenden Geschichte. Es will ihm nicht gelingen, als selbstverständlich zu nehmen, was er beobachtet, er findet Kindheitsmuster, die sich ins Pathologische auswachsen. Zur besonderen Leistung gehört, dass die Klienten nicht lächerlich gemacht werden als Kindsköpfe, die nicht wissen, was sie tun. Sie werden aber auch nicht, wie es das Kitschprogramm so gerne vorsieht, als Menschen vorgestellt, die sich, weil die Welt schlecht ist, in eine Krankheit flüchten, wo sie unangreifbar werden. Bei Elias Hirschl sind sie Menschen mit ausgeprägten Eigenschaften und einem Identitätskern, der nicht zu knacken ist. Solche Gestalten bleiben rätselhaft.

Das Personal spult sein routiniertes Arbeitsprogramm ab. Das bietet den Selbstschutz, angesichts des sichtbaren Unglücks nicht selbst unter die Räder der Tristesse zu geraten. Der Zivi selbst jedoch wird arg gebeutelt. Gerade einmal drei Monate von Oktober bis Weihnachten werden erzählt, und schon hat sich dessen Leben von Grund auf umgekrempelt. Die Beziehung mit seiner Freundin geht in die Brüche, er bezieht wieder sein Kinderzimmer bei den Eltern. Es sieht so aus, als wäre der Zustand der immerwährenden Unvernunft aus der WG ins Privatleben des Zivi verlängert worden

Mit gerade einmal 23 Jahren Elias Hirschl hat schon ein beachtliches Werk von drei Romanen vorgelegt, außerdem hat er sich im Rahmen von Poetry-Slam-Meisterschaften einen Namen gemacht. Jetzt zeigt er, dass er das Zeug dazu hat, auf längere Strecke eine Geschichte zu entwickeln, die es mit den verborgenen Winkeln unserer Gesellschaft ernst meint. Er wird zum Zeugen und Fürsprecher jener, die sich aus unserer Wirklichkeit verabschiedet haben, um sich in eine eigene zurückzuziehen. Die scheint nicht freundlicher zu sein als unsere, Hirschl riskiert jedenfalls einen schrägen Blick darauf.

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