Der Dschungel gleich nebenan

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Sie sind keine Nationalparks, aber dennoch geschützt, die Naturwaldreservate in Österreich, kleine Dschungel, wo sich die Natur pur ausleben darf. In ihnen gedeiht die Vielfalt der Arten von Bäumen, Büschen, Pflanzen und Tieren.

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Sie sind keine Nationalparks, aber dennoch geschützt, die Naturwaldreservate in Österreich, kleine Dschungel, wo sich die Natur pur ausleben darf. In ihnen gedeiht die Vielfalt der Arten von Bäumen, Büschen, Pflanzen und Tieren.

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Naturbewusste Menschen sind immer wieder fasziniert von Berichten über geheimnisvolle Regenwälder und Entdeckungen unbekannter Pflanzen und Tiere unter tropischen Laubdächern. Und sie setzen sich auch gerne für die Erhaltung dieser lebensspendenden Vegetation ein. Wie so oft, vergisst man dabei gerne die Wunder vor der eigenen Haustür, die ebenfalls bedroht sind.

Die Vielfalt unserer Wälder ist erstaunlich. Wer weiß schon, dass es in Österreich etwa 125 verschiedene Waldtypen gibt, nämlich verschiedenste Baum-Gesellschaften (Buche, Tanne-Fichte-Buche, Lärche-Zirbe und viele andere), die sich durch den Boden, die Büsche und Blumen, die Pilze und Gräser völlig unterscheiden. Und natürlich auch durch die Tiere, die diese oder jene Umwelt vorziehen.

Doch manche Menschen machen und machten Gedanken über ihre nächste Umgebung. Wie Graf Hoyos, Eigentümer großer Waldungen, der schon 1830 Naturreservate anlegen wollte, die ein "Zeugnis der Schöpfung" sein sollten. Später widmete auch Albert Rothschild den "Rothwald" in den niederösterreichischen Kalkalpen diesem Anliegen, das in den letzten Jahrzehnten immer intensiver verfolgt und realisiert wird. Vor allem Waldforscher, Förster und Waldexperten halfen mit, den Beginn eines wertvollen biologischen Netzwerkes über Österreich zu spannen.

Nach der Ministerkonferenz 1993 in Helsinki zum Schutze der Wälder Europas, die allgemeine Leitlinien zur Bewahrung der Pflanzen- und Tiervielfalt beschloss, stellte man 1995 das Österreichische Naturwald-Reservat-Programm auf. Man begann damit, die schon vorhandenen "Dschungel", Gebiete, in denen seit Jahrzehnten der Natur ihr Recht gelassen und nichts verändert wurde, in dieses Programm aufzunehmen.

Im Gegensatz zu Naturreservaten, sind Nationalparks in Österreich auch zur Erholung der Menschen da, um der Allgemeinheit ungestörte Natur zu sichern, die weder verbaut, noch durch Verkehrsadern oder Skipisten verunstaltet werden darf. Bauern, Förster und Jäger dürfen dort aber sehr wohl zur Nutzung und Pflege eingreifen. Naturreservate - von denen es heute in Österreich 172 gibt (über 8.000 Hektar) - dürfen jedoch weder vom Besitzer noch von öffentlichen Stellen verändert, bearbeitet, genutzt werden. Den Naturforschern soll vielmehr ein "Studierplatz" gesichert werden.

Nach Waldbränden - die sehr wohl unter Kontrolle zu bringen sind, um angrenzende Gebiete nicht zu gefährden - wird nicht wieder aufgeforstet, sondern nur beobachtet, was die Natur unternimmt. Und sie ist unglaublich aktiv, wie man am Beispiel eines abgebrannten Waldstückes im Süden Österreichs beobachten konnte: Schon nach einem Jahr grünten sie wieder so grün wie eh und je, die Büsche und Pflanzen, Baumschößlinge schossen zwischen verkohlten Ästen hervor. Doch nicht alle Arten waren vertreten, einige verdrängten andere durch schnelleren Wuchs und störenden Schatten. Ein junger Wald - selbst wenn ihn die Natur aufforstet, unterscheidet sich von einem älteren durch viel geringere Artenvielfalt.

Eldorado für Forscher Auch wie sich Stürme, Lawinen, Gewitter oder Extremschneelagen auswirken und wie sich der Wald dann wieder erholt (oder auch nicht) lässt sich in diesen Waldgesellschaften beobachten. Und so wandern seltsame, emsige Menschengrüppchen tagelang mit schnurgitterbespannten Holzrahmen durch die Wildnis, suchen jeden Zentimeter Boden ab, fotografieren und notieren minutiös alles, was sie dort finden. Auch wenn es für einen "normalen" Betrachter absolut nichts Bemerkenswertes zu sehen gibt: Forscherteams aus aller Welt empfinden solche "Gstett'n" als wahres El Dorado.

Doch nicht nur am Boden, auch in Augenhöhe wird geforscht: Ob sich die Bäume wohlfühlen oder nicht wird durch Wachstums- und Saftstrommessungen festgestellt. Und selbst in die Luft geht man, um genaue Diagnosen zu stellen, indem man Fotos und Infrarot-Bilder aus Ballons und Flugzeugen auswertet.

Diese Expeditionen dienen nicht nur der biologischen Feldforschung. Sie liefern auch Aufschlüsse über die Festigung des Bodens (etwa zum Schutz vor Lawinen, Erdrutschen, Verkarstung) und geben Hinweise zur richtigen Bewirtschaftung. Außerdem lassen sich meteorologische und Umweltverschmutzungs-Daten erfassen - Flechten sind da ein besonders guter Indikator, kommen aber im Wesentlichen nur in alten Wäldern vor, was für die Allgemeinheit von Interesse ist.

Und so zahlt diese Allgemeinheit den Waldbesitzern für die Nicht-Nutzung jährlich insgesamt etwa zehn Millionen Schilling: Dafür dürfen diese Waldstücke außer von den Forschern nur von Jägern betreten werden, die für eine Regulierung des Wildbestandes sorgen. Das ist nötig, weil sonst das Wild aus anderen Regionen dorthin flüchten und die Überpopulation eine unnatürliche Situation schaffen würde. Der Eigentümer verpflichtet sich, zweimal jährlich einen Kontrollgang zu machen und darüber zu berichten. Außerdem muss er sich auf mindestens 20 Jahre verpflichten, diesen Status beizubehalten. Ist das nicht der Fall, muss das Geld zurückgezahlt werden.

"Mit jedem Jahr wird das Reservat natürlich interessanter", erzählt Georg Frank, einer der beiden Leiter dieses Projektes. "Doch für mehr als 20 Jahre ist die Finanzierung einstweilen nicht gesichert."

Die Auswahlkriterien sind streng, denn das Budget ist äußerst knapp. Damit ein Reservat anerkannt wird, müssen viele Kriterien stimmen. Die Größe zum Beispiel, da sonst die Daten durch den engen Einfluss der Umgebung nutzlos sind. Dabei muss aber auf den jeweiligen Waldtyp Rücksicht genommen werden: Ein Buchenwald (wie der Wienerwald) sollte etwa 30 Hektar haben. Auch das Alter und der Zustand (frisch gepflanzte Jungwälder sind klarerweise unbrauchbar), die Seltenheit der vorkommenden Bäume und ihre Gefährdung sind zu berücksichtigen. "Aber wenn ein Wald besonders gut liegt oder in der Struktur ideal ist, kann man auch einmal eine kleinere Fläche wählen", erklärt Frank.

Möglichst abgelegen Die Lage ist sehr wichtig - je abgeschiedener und unzugänglicher, desto besser. Neben einer Autobahn oder in einem vielbewanderten Gebiet ist die nötige Ruhe nicht vorhanden. Und einzäunen kann und soll man diese Gebiete nicht. Sie dürfen ja nicht zur Insel gemacht und damit wieder in einen unnatürlichen Zustand gebracht werden.

"Priorität hat selbstverständlich der Schutz und die Sicherheit von Ortschaften", betont Gerfried Koch, der zweite Projektleiter. So sucht man nach Gegenden, in die sich ohnehin kaum jemand verirrt, und die auch nur den Waldexperten und den Besitzern bekannt sind. Denn auf Geheimhaltung wird größter Wert gelegt. "Wir haben damit aus den schlechten Erfahrungen anderer gelernt", erklärt Koch diese "Geheimnistuerei". "Da wurden plötzlich, als die genaue Lage eines solchen Reservates in einer Zeitung beschrieben wurde, richtige Trampelpfade durch dieses Reservat gezogen."

Viele seltene Pflanzen Mit großer Freude konnte man bereits jetzt, nach nur fünf Beobachtungsjahren, ganz besonders seltene Lebewesen in den Reservaten entdecken, an die man eigentlich gar nicht gedacht hatte. Denn ursprünglich hatte man sich nur auf Pflanzen konzentriert und auch da schon entdeckt, dass verschiedenste Orchideenarten und ungewöhnliche Bäume wie Spirken (aufrechte Latschen), der Speierling (dessen birnenartige Früchte man im Mittelalter als Konservierungsmittel verwendete) und Büsche wie Stinkwacholder (einstmals ein Abtreibungsmittel) sich wieder ausbreiten. Seit 50 Jahren brütet zum ersten Mal wieder ein Seeadlerpaar in Österreich: in einem dieser Reservate. Und Schwarzstorch, Uhu, Weißrückenspecht und viele andere seltene Tiere haben wieder Orte gefunden, wo sie sich ungestört wohlfühlen können.

Was sich die "Dschungelforscher" wünschen, ist ein gleichmäßiges Netzwerk, in dem alle Wuchsgebiete vertreten sind, denn bisher gibt es Naturreservate vor allem in den südlichen und nördlichen Kalkalpen, aber noch zu wenige im Alpenvorland, im steirischen Bergland oder im Waldviertel.

Einige Reservate sind als Informations-Wälder für Besucher geplant. Mit eigenen Wegen und Steigen durchs Dickicht, vielleicht auch mit Beschriftungen oder Informationsführungen. "Dort können wir dann unseren allgemeinen Bildungsauftrag erfüllen und endlich auch erklären, dass solche Wälder nicht unordentlich, nachlässig und ungepflegt sind, wie das den Besitzern oft von Ahnungslosen vorgeworfen wird. Aber das Verständnis in diese Richtung wächst ohnehin ständig."

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