Der erste Funken Freiheit

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Migrantinnen helfen Migrantinnen. So will das Integrationsprojekt "Nachbarinnen“ isoliert lebende Frauen an die Angebote der Stadt Wien heranführen. Ein Lokalaugenschein.

Schon von weitem ist das Stimmengewirr hörbar. Eine Teilnehmerin nach der nächsten trudelt im Jugendzentrum des 5. Wiener Bezirks ein. Die jungen Frauen mit den bunten Kopftüchern begrüßen einander herzlich, unterhalten sich angeregt in der Kaffeeküche, scherzen. An vier Vormittagen die Woche besuchen sie hier ihre Ausbildung zur "Nachbarin“.

Ihre Hintergründe sind ganz unterschiedliche: Sie kommen aus der Türkei, Tschetschenien, Ägypten, Somalia und dem Sudan. Eine Frau war Nachrichtenspreche-rin, eine war Lehrerin, eine hat für die Weltgesundheitsorganisation gearbeitet. Andere wiederum haben noch nie einen Job außerhalb des Hauses gemacht. Doch sie haben auch einiges gemeinsam: Alle sprechen gut Deutsch und zumindest eine weitere Sprache. Alle verfügen über ein Netzwerk innerhalb ihrer Community. Und alle haben Erfahrung damit, anderen Migrantinnen im Alltag zu helfen.

Mittlerinnen zwischen Welten

Durch das Projekt "Nachbarinnen“ (siehe Kasten) erhalten diese Frauen die Möglichkeit, aus ihrem ehrenamtlichen Engagement einen Beruf zu machen. Sie werden Migrantinnen aus integrations- und bildungsfernen Schichten helfen und auf Angebote der Stadt Wien aufmerksam machen. Dafür werden sie Spielplätze, Moscheen und Kulturvereine aufsuchen und Hausbesuche machen.

Schon seit langem setzt sich die Kursteilnehmerin Senem Ayaz für andere Migrantinnen unentgeltlich ein. "Jetzt kann ich diese Arbeit sogar professionell machen“, freut sich die Türkin. Seit mittlerweile 13 Jahren lebt sie in Österreich. Die 38-Jährige trägt Nadelstreifenhosen und Strickpulli, zusammengebundene Haare und dezente Ohrringe. An ihrer Hand blitzt ein Ehering. In der Türkei hat Ayaz in der Buchhaltung gearbeitet. "Ich wollte eigentlich ein Studium beginnen, aber bin dann zu meinem Ehemann nach Österreich gekommen. Er wollte gleich Kinder, also war ich nach vier Monaten schwanger“, erzählt sie in lupenreinem Deutsch. Die Anfangszeit in Wien war ein Schock für die junge Frau: Sie sprach kaum Deutsch, war für Behördengänge oder Arztbesuche auf die Hilfe Bekannter angewiesen. "Sie zeigten mir, welche Angebote es gibt. Ihre Hilfe war sehr wichtig für mich.“

Selbsthilfe ist das zentrale Thema der "Nachbarinnen“: "Sie sollen andere Frauen dazu animieren, möglichst rasch selbstständig zu werden“, erklärt die Sozialwissenschafterin Evelyn Klein von der Fakultät für interdisziplinäre Forschung und Ausbildung (IFF) in Wien. Sie hat die Ausbildung für die "Nachbarinnen“ konzipiert.

"Nachbarinnen“ sind Mittlerinnen zwischen zwei Welten: Einerseits haben sie noch einen Fuß in ihrer Community. Andererseits haben sie sich bereits in Österreich eingelebt. "Dadurch finden sie leichteren Zugang zu den Familien, haben aber ihre Situation als Frau und Migrantin schon reflektiert“, erklärt Projektinitiatorin Renate Schnee. Die Sozialarbeiterin hat gemeinsam mit der Ärztin Christine Scholten den Verein "Nachbarinnen“ aufgebaut. "Die Idee, sich gegenseitig zu unterstützen, verbreitet sich schnell, weil sie ermutigt und anstachelt“, sagt Projektkoordinatorin Scholten.

Am heutigen Kurstag diskutieren die Teilnehmerinnen die wichtigsten Inhalte der vergangenen vier Wochen. Eine junge Frau mit violettem Kopftuch schreibt mit einem Filzstift die Schlagwörter "Quereinsteigerin“, "Selbstreflexion“ und "Aushalten von Widersprüchen“ auf ein Plakat.

Brachliegende Kompetenzen

"Als Kassenärztin mit Praxis in Favoriten habe ich immer wieder miterlebt, wie unfrei viele Migrantinnen sind. Mir wurde klar: Ich will etwas tun, um das zu ändern“, erzählt Scholten. "Was wir als selbstverständlich annehmen - unsere individuelle Freiheit - würden wir gerne allen Frauen ermöglichen.“

Am Nachbartisch sammelt eine Gruppe die unterschiedlichen Stärken der einzelnen Frauen: "Ich kann vertrauliche Beziehungen aufbauen und eine gute Atmosphäre schaffen“, sagt eine. "Ich bin gut im Organisieren und Vermitteln innerhalb eines Netzwerkes“, fügt ihre Sitznachbarin hinzu. Die meiste Zeit unterhalten sich die Frauen auf Deutsch, bei komplexen Begriffen wechseln sie in ihre gemeinsame Muttersprache Türkisch.

"Wir wollen die vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen dieser Frauen endlich nutzen. Denn oft bleibt ihnen als einzige Option, unangemeldet als Reinigungskraft zu arbeiten“, weiß Sozialarbeiterin Schnee. Eine Studie des Österreichischen Integrationsfonds zeigt: Nur 41 Prozent der Migrantinnen aus dem türkisch-muslimischen Kulturkreis stehen im Erwerbsleben, viele arbeiten unter ihrem Qualifikationsniveau. Ihre Bildungssituation hat sich seit den Achtzigerjahren sogar massiv verschlechtert: "Mit Ende der Schulpflicht fällt ein Drittel der türkisch-muslimischen Mädchen aus dem österreichischen Bildungs- und Erwerbssystem“, kritisiert Wirtschaftsforscherin Gudrun Biffl.

Die Arbeit der "Nachbarinnen“ soll für alle Beteiligten eine Win-Win-Situation bringen: "Einerseits können wir Frauen, die bisher in Abhängigkeit von ihren Männern oder Schwiegereltern lebten, in die Arbeitswelt führen. Andererseits soll sich die Lebenssituation der Frauen und Kindern in den Zielfamilien verbessern“, so Scholten.

Die Innovation des Projekts besteht darin, mit den Beratungsangeboten aktiv auf die Zielgruppe zuzugehen. Diese "aufsuchende Sozialarbeit“ trägt bereits Früchte: Vier der Frauen, die nun an der Ausbildung teilnehmen, haben ursprünglich selbst Beratungsangebote in Anspruch genommen. "Sie haben inzwischen sehr viel aus sich gemacht“, sagt Scholten stolz.

Einen Tisch weiter sammeln zwei Frauen Argumente, mit denen man Eltern überzeugen könnte, ihr Kind in den Kindergarten zu schicken. Lernhilfe für migrantische Kinder ist ein wesentlicher Bestandteil des Projekts.

Viele Frauen, ähnliche Probleme

Die Aufklärungsarbeit in den Familien erweist sich oft als mühselig und heikel: "Es braucht viel Überzeugungsarbeit, Tricks und Beispiele, um vor allem die Männer für unsere Integrationsangebote zu gewinnen“, gibt Schnee zu bedenken.

Kursteilnehmerin Ayaz berichtet, wie sie kürzlich einen Mann überzeugen konnte, dass seine Frau an einem Computerkurs teilnehmen darf. "Ich habe ihm erklärt, welche Vorteile ihre Eigenständigkeit bringt.“ Die künftige "Nachbarin“ will anderen Frauen zeigen: Ihr seid nicht allein mit euren Problemen. "Die Frauen in unserem Land haben alle Schwierigkeiten mit ihren Vätern, Brüdern, Ehemännern. Sie lassen uns nicht selbstständig sein“, kritisiert die Türkin. "Das heißt nicht, dass wir keine Männer brauchen. Es ist uns wichtig, Familie und Beruf vereinen zu können“, wirft die Mutter zweier Kinder ein. "Wenn Frauen offen für unsere Hilfe sind, können wir gemeinsam sehr viel erreichen. Wir Frauen müssen immer einen Schritt weitergehen“, sagt Ayaz mit fester Stimme und nickt.

Spendenhinweis

Verein Nachbarinnen

Kontonr.: 10001479988 • BLZ 12000

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