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Der Fragebogen

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Eine der unerfreulichsten Erscheinungen in unserer an bürokratischen Einrichtungen und Auswüchsen gewiß nicht armen Zeit stellt zweifellos der Fragebogen dar, der als eine Art papierne Inquisition dem Staatsbürger zur Qual geschaffen scheint. Abgesehen davon, daß in solchen amtlich aufgelegten Formularen fast stets die wahrheitsgemäße Beantwortung bei sonstiger Strafe oder doch „an Eides Statt“ verlangt wird, sieht sich derjenige, der das Blatt ausfüllt, wiederholt gezwungen, gegen sich selbst Angaben zu machen, die ihm weitgehenden Schaden bringen können; eine Folge, die unseren heutigen, im Zivil- und Strafrechtssystem zur Geltung kommenden Auffassungen gröblich widerstreitet.

Und zwar widerspricht es der allgemeinen Rechtsau ff assung in allen Kulturländern der Erde, den auf Prinzipien des Naturrechts basierenden Anschauungen sowie den in allen zivilisierten Staaten anerkannten Menschenrechten, wenn man einen Staatsbürger zwingt, gegen sich selbst oder gegen seine nächsten Angehörigen jederzeit riickhaltslos Beschuldigungen vorzubringen, das heißt, irgendeine Schuld einzubekennen, und gleichzeitig für den Fall, als er sich zu den geforderten und erwarteten Selbstbezichtigungen nicht freiwillig herbeiläßt, ihn deswegen außerdem noch mit Freiheitsstrafen und Rechtsnachteilen schwerer Art zu bedrohen und zu verfolgen.

Auch in Österreich ist seit langem, zumindest aber zuletzt durch die Strafprozeßordnung vom Jahre 1873 ausdrücklich das Recht jedes Beschuldigten anerkannt, auf eine ge- ' stellte Frage die Antwort zu verweigern und für den Fall einer unrichtigen Beantwortung einer Frage strafrechtlich und strafprozessual unbehelligt zu bleiben. Im Gegensatz zu den unter Wahrheitspflicht stehenden Zeugen sind also unrichtige, unwahre Angaben eines Beschuldigten niemals mit Strafe bedroht. Dies ergibt sich ausdrücklich aus § 202 der Strafprozeßordnung, wonach es dem Gerichte untersagt ist, „Versprechungen, Vorspiegelungen, Drohungen oder gar Zwangsmittel anzuwenden, um den Beschuldigten zu Geständnissen oder anderen bestimmten Angaben zu bewegen“. § 203 der Strafprozeßordnung anerkennt auch das Recht jedes Beschuldigten, „die Antwort überhaupt oder auf bestimmte Frage .. zu verweigern“. Die einzige Folge, die diese Gesetzesstelle für den Fall der Verweigerung einet Angabe des Beschuldigten festlegt, ist die Tatsache, „daß sein Verhalten die Untersuchung nicht hemmen könne“ (§ 203 Strafprozeßordnung). Geständnisse eines Beschuldigten und Selbstbezichtigungen haben auch nach unserem heutigen Strafrechrssystem schon deswegen geminderten Wert, weil sie den Richter' nach der ausdrücklichen Vorschrift des § 206 der Strafprozeßordnung nicht von der Pflicht entheben, den Tatbestand trotzdem unabhängig von den Angaben des Beschuldigten soweit als möglich zu ermitteln. § 245, Absatz 2, der Strafprozeßordnung sagt desgleichen, „der Angeklagte könne zur Beantwortung der an ihn gerichteten Fragen nicht verhalten werden“. Es gehört also zu den im Rahmen eines Strafverfahrens jedem Beschuldigten gewährleisteten Freiheiten und Menschenrechten, sich unabhängig von jeglichem physischen und psychischen Druck verantworten und der staatlichen Behörde gegenüber auftreten zu können. Lediglich die bewußte Irreführung des Gerichtes durch „Erdichtung falscher Umstände und Hintergehung des Gerichtes“ kann nach § 45 des Strafgesetzes als erschwerender Umstand bei der Strafbemessung in Frage kommen.

Es soll in diesem Zusammenhange auch darauf verwiesen werden, daß selbst Zeugen, die an sich unbedingt zur Wahrheit verpflichtet sind, unter gewissen Umständen sich dieser Pflicht entziehen können, zwar nicht dadurch, daß unwahre Angaben ihrerseits straffrei wären, aber daß sie im Sinne der Bestimmungen der §§ 152 und 153 Strafprozeßordnung die Ablegung eines Zeugnisses verweigern können. Insbesondere auf die Vorschrift des § 153 Strafprozeßordnung muß in diesem Zusammenhange verwiesen werden, wonach ein Zeuge nicht nur dann die Aussage ablehnen darf, wenn er durch ein nahes Verwandtschaftsverhältnis zu der durch eine wahrheitsgemäße Aussage durch ihn zu belastenden Person in Gewissensnot und Seelenpein getrieben werden könnte, sondern wenn er dadurch sogar bloß einen Vermögensnachteil oder eine Schande für sich selbst befürchten zu müssen glaubt.

Auch der Tatbestand des § 320 a unseres Strafgesetzes sei hervorgehoben, der denjenigen unter Strafe stellt, der „eine Behörde mit falschen Angaben über seinen Namen, seinen Geburtsort, seinen Stand oder sonst über seine Verhältnisse auf eine Weise hintergeht, wodurch die öffentliche Aufsicht irregeführt werden kann“. Im zweiten Absatz dieser Gesetzesstelle wird ausdrücklich hinzugefügt, daß derjenige nicht strafbar ist, der die Tat begangenhat, um einer behördlichen Bestrafung zu entgehen. Auch hier hält es das Strafgesetz für menschenunwürdig, jemand zu veranlassen, gegen sich selbst, gegen seinen Willen zu seinem Schaden Belastendes auszusagen oder anzugeben.

Man kann also schon in dieser Erinnerung an gesetzliche Bestimmungen der Strafprozeßordnung und des Strafgesetzes sehen, daß in unserem Rechtssystem, wie ja von vornherein kaum daran zu zweifeln war, die allgemeinen Freiheits- und Menschenrechte auch in dieser Richtung anerkannt sind. Es muß als höchst bedauerlich festgestellt werden, daß beim rechtlichen Wiederaufbau Österreichs als Demokratie auf dem Gebiete der Gesetzgebung Grundsätze' nicht genugsam beachtet wurden und werden, die unbedingt eingehalten werden müssen, soll die Gesetzgebung nicht das Zerrbild eines Rechtsstaates ergeben.

Zu jenen Methoden, deren Anwendung den allgemeinen Freiheits- und Menschenrechten und dem Begriffe eines Rechtsstaates widerstreiten, gehört auch die heute immer allgemeiner werdende Übung, den einzelnen Staatsbürgern bei jeder sich ergebenden Gelegenheit Fragebögen zur Erledigung und Beantwortung vorzulegen, durch welche sie sich durch die eigenen Angaben gegebenenfalls selbst beschuldigen und sehr wesentliche Nachteile selbst aufbürden sollen, wobei für den Fall der nicht ordnungsgemäßen oder unvollständigen Ausfüllung eines solchen Fragebogens schwere Strafen angedroht und in Vollzug gesetzt werden.

Wenn man in der strafprozessual längst überwundenen Folter vergangener Jahrhunderte die Absicht der staatlichen Behörde erkennt, durch Anwendung physischer Zwangsmittel Selbstbeschuldigungen vermeintlicher Rechtsbrecher erreichen zu . wollen, um sich die Mühe eigener Erhebungen und Nachforschungen ersparen zu können, so ist der unter Strafsanktion stehende, mit psychischen Druck- und Zwangsmitteln arbeitende Fragebogen die neuzeitliche Folter unseres Jahrhunderts geworden.

Der Unterschied besteht nur darin, daß es sich hier nicht um körperliche Leiden, also nicht um die Auslösung physischer schmerzen, sondern um die planmäßige Androhung und die Verursachung psychischer Pein und seelischer Qual handelt.

Es ist nun einmal schon für jeden, der noch menschlich zu denken imstande ist, begreiflich und durchaus verständlich, daß der einzelne — ob es sich um verstockte oder reumütige Sünder und Rechtsbrecher handelt — immer danach trachten wird, ein von ihm begangenes Unrecht nach Möglichkeit der Umwelt, aber insbesondere der nachforschenden Gerechtigkeit in milderem Lichte erscheinen zu lassen und es zu beschönigen. Das kann und wird unter Umständen soweit gehen, daß der einzelne, allenfalls der Selbstsuggestion erliegend, vielleicht sogar letzten Endes selbst das glaubt, das der Wahrheit nicht ganz entspricht. Wir machen auch im Strafrechte den Unterschied zwischen objektiver und subjektiver Schuld.

Das nach den naturrechtlichen Grundsätzen Unrechtmäßige eines solchen

Verlangens nach Selbstbeschuldigung mag ein weiterer Vergleich noch klarer erkennen lassen:

Jeder Richter hat den Beschuldigten in der Voruntersuchung und den Angeklagten in der Hauptverhandlung zu befragen, ob er vorbestraft ist. Erklärt der Delinquent wahrheitswidrig, daß er unbescholten sei. so wird der Richter nach einem Blick auf die vom Strafregisteramt “eingeholte Strafkarte ihm vorhalten, daß seine Angabe unwahr gewesen sei, keineswegs ihn aber disziplinieren oder gar wegen dieser unwahren Angabe allein mit Kerker bestrafend Jedem unvoreingenommenen und durch die verflossene siebenjährige faschistisch-nazistische Zeitepoche noch unangekränkelten Menschen würde eine solche Gesetzesvorschrift, die den Richter zu solchen Maßnahmen ermächtigen würde, grotesk erscheinen. Dessenungeachtet schuf das Wahlgesetz vorn 19. Oktober 1945, Staatsgesetzblatt 198/45, und das Fragebogengesetz vom 13. November 1946, Bundesgesetzblatt 6/47, solches „Rech t“.

Ähnlich wäre es, wollte man, um den Untersuchungsrichtern die Arbeit bequemer zu machen und zu erleichtern, ein Gesetz schaffen, das den seine Schuld leugnenden Rechtsbrecher mit einer' besonderen Strafe bedroht, .wenn er nicht geständig ist. Würde die Gesetzgebung in der angegebenen Richtung konsequent fortschreiten, müßte eine künftige, die Untersuchungsrichter entlastende Reform der Strafprozeßordnung dahin kommen, daß viele langwierige, zeitraubende Strafvoruntersuchungen wegfallen könnten. Jeder Untersuchungsrichter brauchte dem im Verdacht einer strafbaren Handlung stehenden Beschuldigten nur einen Fragebogen vorzulegen, in welchem er vorher die je nach der Art des angelasteten Delikts ausgewählten und präzisierten Fragen verzeichnet hat und in welchem die streng wahrheitsgemäße Beantwortung dieser Frage dem Beschuldigten an Eides Statt und unter Androhung einer besonderen Strafe Verlangt wird. Stellt sich im nachhinein im Zuge der Voruntersuchung heraus, daß der Beschuldigte diese Fragen zu Unrecht im Fragebogen unwahr oder beschönigend beantwortet und nicht gleich ein volles Geständnis abgelegt hat, wird er wegen Betruges gegen das Gericht, beziehungsweise den Untersuchungsrichter, zu einer Zusatzkerkerstrafe von ein bis fünf Jahren zu verurteilet sein. (Siehe Fragebogengesetz!) Oder eine künftige Justizreform —«■ Ideen zu solchen Reformen erscheinen ja jederzeit aktuell zu sein könnte den Gedanken aufgreifen, in Hinkunft analog dem jährlichen Steuerveranlagungsverfahren an alle Staatsbürger bloß Fragebogen zu versenden, worin ihnen aufgetragen würde, die von ihnen im Laufe des jeweiligen verflossenen Jahres begangenen strafbaren Handlungen rückhaltslos einzugestehen und unter strenger Wahrheitspflicht an Eides Statt mitzuteilen. Die Richer brauchten dann nur die Strafe auf Grund der Geständnisse in den Fragebogen festzusetzen.

Zweck dieser Darlegungen war e$ jedenfalls, zu zeigen, daß der Unfug der Fragebogen, wie übrigens auch der strafrechtliche Tatbestand nach § 7 des Wahlgesetzes vom 19. Oktober 1945 (unwahre Angaben im Wähleranlageblatt), wie insbesondere der Tatbestand nach dem Fragebogengesetz vom

13. November 1946, nicht jenen Grundsätzen der Moral und der Ethik entspricht, deren Beobachtung zu den Grundpfeilern jedes Rechtsstaates gehören.

Selbst wenn im einzelnen Falle zwar keine strafgesetzliche Sanktion auf die nicht ordnungsgemäße Beantwortung eines Fragebogens gesetzt ist, sondern nur die richtige Beantwortung „an Eides Statt“ begehrt, wird, kanndiesfür religiös veranlagte Menschen mitunter Gewissensnot genug sein, so daß diese Einrichtung als unmoralisch bekämpft werden muß.

Die Wurzeln des Fragebogens reichen ins ^Dritte Reich“ zurück. Sie sind m der heutigen Form noch immer als eine „Originalschöpfung“ des Nazismus anzusehen, allerdings „verbessert“ und weiterentwickelt, indem die frühere bloße „Eides-Statt-Klausel“ durch eine Strafsanktion von ein bis fünf Jahren Kerker (Wahlgesetz, Fragebogengesetz!) ersetzt wurde. Es befremdet einigermaßen und hat auch recht Bedenkliches an sich, werfh Systeme und typische Praktiken des faschistisch-nationalsozialistischen Regimes nicht nur weiterbestehen, sondern sogar verschärft werden.

Es wäre an der Zeit, einzusehen, daß der Fragebogen in allen seinen verschiedenen Formen unseren heutigen Ansdiauungen von Menschenrecht und persönlicher Freiheit widerspricht. Statt daß man die unwahre, ungenaue Beantwortung von Fragebogen mit der exorbitant hohen Strafe von ein bis fünf Jahren Kerker bedroht, also m i t einer fünfmal so strengen

Strafe, als Betrug un3 Falsche Zeugenaussage (!), dürfte es angemessener sein und den sonstigen Tendenzen unseres Rechtssytem« weitaus mehr entsprechen, wenn man jeden Versuch, auf dem Umwege eines Fragebogens Geständnisse zu erzwingen, dem Tatbestande des Verbrechens der Erpressung, beziehungsweise des Amtsmißbrauchs gleichsetzen würde.

Wenn behördliche Stellen sich gegebenenfalls bestimmt finden müssen, über einen Staatsbürger Erkundigungen einzuholen, so werden sie dies im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten tun können und werden ihnen hiezu alle sonstigen Hilfsmittel des bürokratischen Apparats, Vernehmungen von Auskunftspersonen, Erhebungen an Ort und Stelle durch eigene geschulte Organe zur Verfügung stehen, sie werden dann aber kein Recht mehr haben, sich an den Betroffenen selbst zu wenden und von ihm zu verlangen, daß er ihnen Belastungsmaterial gegen sich selbst dienstbeflissen an die Hand gibt, um sich vor Bestrafung mit Kerker — 'schon wegen der ungenauen oder unrichtigen Beantwortung des Fragebogens allein —tzu schützen.

Und dann wird der ersehnte Augenblick kommen können, da jeder Staatsbürger, wenn man ihm zumutet, einen Fragebogen auszufüllen, denselben der Staatsanwaltschaft zur weiteren Amtshandlung gegen den Aussender übermittelt oder ohne viel Umstände einfach dorthin wirft, wohin c gehört — in den Papierkorb.

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