Der geheime Horror im Rücken der Moderne

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Die Jahrtausendwende ist etwas Besonderes. Sie ist mit Katastrophenund Veränderungsphantasien verbunden und fordert die Menschen zu einem Neubeginn heraus.

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Die Jahrtausendwende ist etwas Besonderes. Sie ist mit Katastrophenund Veränderungsphantasien verbunden und fordert die Menschen zu einem Neubeginn heraus.

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Die "Apokalypse" des Johannes - eine "Theologie der Hoffnung": Die heute weit verbreitete apokalyptische Metaphorik in Literatur, Film und in der Medienlandschaft hat mit dem Wesen der Apokalyptik wenig zu tun. Der Untergangs-Diskurs ist vielfältig. Der französische Philosoph Jacques Derrida spricht deshalb kritisch von einer Endlos-Serie von Enden: Apocalypse now. Das Ende der Geschichte, das Ende der Moral, das Ende der Malerei, das Ende des Christentums und viele andere nicht enden wollende Enden werden beschworen.

Aber Apokalypse heißt zunächst einfach Offenbarung, Enthüllung, Aufdeckung der Wahrheit und nicht Katastrophe, Untergang und Weltende. Die Wahrheit über den Menschen und die Welt erweist sich als beunruhigend, gefährlich und deshalb wird sie verborgen.

Die apokalyptische Wahrheit äußert sich nicht im rationalen Diskurs, sondern als Drama, nicht in vernünftiger Rede, sondern im Sturm poetischer Bilder voll von Widersprüchen und extremen Gefühlen: Rache, Haß, entfesselte Wut, bestialische Grausamkeit, leidenschaftliche Hingabe, Opferbereitschaft und Todeslust.

In einer Zeit des Kaiserkults und der damit verbundenen Christenverfolgungen wird Johannes berufen, als Sprachrohr Gottes mitzuteilen, was geschehen wird: Untergang und Rettung. Diese einzige prophetische Schrift des Neuen Testaments verkündet den endgültigen Sieg Christi - als Mahn- und Trostbuch.

Denn Johannes ist ein Verfolgter, Gefolterter, Exilierter. Auf der Insel Patmos verbannt, sendet er mit der "Offenbarung" den bedrängten Gemeinden Trost. In der Sprache poetischer Bilder und Symbole enthält diese Schrift massive, ja vernichtende Kritik an den herrschenden Cliquen am Kaiserhof und im Tempel.

Apokalyptik ist also keine Metaphysik der Katastrophe, sondern Theologie der Hoffnung. Die Geschichte wird nicht gemäß der Logik des Zerfalls, sondern im Lichte des Heils rekonstruiert. Die Rachephantasien des Untergangs richten sich gegen die Gewaltmonopole des Staates und der Herrschenden.

Motor der Apokalypse ist die Sehnsucht nach Gerechtigkeit: die alte, ungerechte Welt wird untergehen, ein neuer Himmel, eine neue Erde, ein neues Jerusalem wird erstehen. Im Blutstrom des Untergangs, der sadistischen Orgien und kosmischen Katastrophen wird die Gerechtigkeit hergestellt, nach der die geschundenen Existenzen dürsten.

Aber "Herrschaftstheologen" haben die Apokalypse oft als Drohmittel moralisierend instrumentalisiert. Die ursprüngliche befreiende Bedeutung hat Albrecht Dürer in seinem Holzschnitt-Zyklus über die Apokalypse deutlich dargestellt. Sein weltberühmtes Kunstwerk ist ein Zeugnis für versteckte ketzerische Kritik an Kirche, Staat und den weltlichen Oberschichten.

Die Apokalypse wird zum geheimen Horror im Rücken der Moderne und des Rationalismus, der allein auf den Fortschrittsglauben setzt und meint, die Apokalypse-Angst und die Apokalypse-Hoffnung überwunden zu haben. Im Denken der Aufklärung und der Moderne sind Katastrophen nicht mehr Durchgang und möglicher Neubeginn. Die Wucht des Todes, des Unglücks trifft ohne Rückhalt, total, absolut.

Der Literaturwissenschafter Hartmut Böhme bringt diese Sichtweise auf den Punkt: "Die Moderne ist radikale Anti-Apokalyptik - und hierin liegt einer der Gründe für die periodische Heimsuchung der modernen Gesellschaften durch die Gespenster der großen Weltfinale". Denn die Aufklärung hat die Ängste und Hoffnungen, die im apokalyptischen Drama arbeiten und bearbeitet werden, keineswegs überwunden, sondern nur hinter sich zu lassen versucht.

Die Jahrtausendwende fördert Angst- und Wunschprojektionen: Die Jahrtausendwende ist etwas Besonderes. Sie hat für viele Menschen eine magische Anziehung und kann deshalb medial und ökonomisch ausgebeutet werden. Die Wendezeit stellt eine höchst ambivalente Schwelle dar, die mit Katastrophen- und Veränderungsphantasien verbunden ist.

Die "Magie der Null", die auch bei Geburtstagen eine gewisse Rolle spielt, ist häufig mit Rückblick und Ausblick verbunden. In urchristlicher Auffassung könnte man von Memoria - Erinnerung an heilsame und heillose Ereignisse - und Metanoia - Umkehr und Neubeginn - sprechen.

Der Zeitgeist lebt weithin nach dem Motto: "Eine kleine heile Welt, die noch eine kleine Weile hält". Wir müssen enorme strukturelle Ungerechtigkeit, Gefahren und Zerstörungspotentiale ein Stück weit verleugnen, weil wir sonst nicht leben könnten. Doch wenn wir diese Gefahren zu sehr verleugnen, wächst die Wahrscheinlichkeit von Katastrophen.

Durch diese Verleugnungs- und Verdrängungsprozesse wird wohl das Gefühl des Unheimlichen verstärkt, das mit Angst, Schrecken und Grauen verbunden ist. Denn im Gefühl des Unheimlichen kann verdrängte Angst und verleugnete Bedrohung wiederkehren.

Sigmund Freud machte 1929 auf diesen sehr aktuellen Zusammenhang aufmerksam: "Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maß es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung".

Der folgende Witz bringt dies massiv zum Ausdruck: Zwei Planeten treffen einander nach zehn Millionen Jahren. "Wie geht's Dir", fragt der eine. Darauf antwortet der andere traurig: "Mir geht es schlecht, sehr schlecht. Ich habe nämlich den homo sapiens". "Oh Gott", sagt der andere, "das ist schrecklich. Aber tröste dich, das geht bald vorbei!"

Ein weiterer Aspekt ist das höchst ambivalente Phänomen der Angstlust, das die Faszination des Schreckens, der in den Untergangsphantasien auch Ausdruck findet, mitbestimmt.

Der weithin herrschende Rationalismus fördert - ungewollt und unbewußt - den zunehmenden Irrationalismus, der auch angesichts der Jahrtausendwende fröhliche Urstände feiert: Riesige Hotelketten werden auf Pazifikinseln in der Nähe der Zeitgrenze errichtet. Viele Kreuzfahrtschiffe werden dort das neue Jahrtausend "begrüßen". Dieses hysterische Theater soll wohl auch Ängste beschwichtigen.

Realangst statt hysterischer Ängste: Sören Kierkegaard gibt einen tiefen Einblick in die menschliche Angstlandschaft, wenn er sagt: "Hingegen möchte ich sagen, daß dies ein Abenteuer ist, das jeder Mensch zu bestehen hat: Angst haben zu lernen, damit er nicht verloren sei, entweder dadurch, daß ihm nie angst gewesen ist, oder dadurch, daß er in der Angst versinkt; wer daher gelernt hat, auf die rechte Weise Angst zu haben, der hat das Höchste gelernt".

Und Sigmund Freud, der wußte, daß er nur "ein wenig Licht in die unermeßlichen psychischen Räume des Menschen bringen konnte", war davon überzeugt, "daß das Angstphänomen ein Knotenpunkt ist, an welchem die verschiedensten und wichtigsten Fragen zusammentreffen, ein Rätsel, dessen Lösung eine Fülle von Licht über unser ganzes Seelenleben ergießen müßte".

Mit der Unterscheidung zwischen Realangst, neurotischer und psychotischer Angst trug Freud zum besseren Verständnis unserer Ängste bei. Realangst ist die Reaktion auf die Wahrnehmung einer äußeren oder inneren Gefahr. Sie ist eine Äußerung des Selbsterhaltungstriebes und signalisiert, daß etwas getan werden muß, weil Gefahr droht. Aber die Angstentwicklung, der Angstaffekt darf nicht zu stark werden, sonst werden Handlungsfähigkeit und Realitätserkenntnis gehemmt.

Dagegen äußert sich neurotische Angst in vielfältiger, mehr oder weniger einfühlbarer oder bizarrer Weise - etwa als maßlos übertriebene Angst des Angstneurotikers oder als panische Angst des Phobikers. Auch scheinbar spontane Angstattacken kommen ebenso vor wie psychotische Ängste, bei denen die Realitätsverzerrung extreme Formen annehmen kann.

Es sind vor allem neurotische Ängste, die das Leben unnötig einschränken, hemmen und lähmen. Sie sind die Kräfte, die die Wahrnehmung und Kultivierung der inneren und äußeren Wirklichkeit oft be- und verhindern.

Ohne die Verringerung von neurotischen Ängsten, ohne Erleben von Realangst gibt es keine entfaltete Humanität, keine Lösung der heute weltweit anstehenden Probleme. Denn neurotische Angst führt zur Blockade der Lebenskräfte, zur Verblödung der Sinnes- und Besinnungsorgane. Sie führt zur Störung und Zerstörung des Kontaktes mit sich selbst, mit anderen Menschen und mit der "Mutter Erde".

Ich möchte mit Günther Anders Ermutigung zu kreativer Angst schließen: "Habe keine Angst vor der Angst, habe Mut zur Angst. Auch den Mut, Angst zu machen. Ängstige Deinen Nachbarn wie Dich selbst. Freilich muß diese unsere Angst eine von ganz besonderer Art sein: eine furchtlose Angst, da sie jede Angst vor denen, die uns als Angsthasen verhöhnen könnten, ausschließt; eine belebende Angst, da sie uns, statt in die Stubenecken hinein, in die Straßen treiben soll; eine liebende Angst, die sich um die Welt ängstigen soll, nicht nur vor dem, was uns zustoßen könnte".

Der Autor ist Theologe, Psychoanalytiker und Wissenschaftspublizist.

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