Der Sieg der Demokratie - und ihr Preis

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Vom Standpunkt politischer Gerechtigkeit mag man sich über die Niederlage des türkischen Präsidenten Erdogan freuen. Aber innen-, außen- und wirtschaftspolitisch könnte die Wende weniger Stabilität für die Türkei und den Nahen Osten bedeuten.

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Vom Standpunkt politischer Gerechtigkeit mag man sich über die Niederlage des türkischen Präsidenten Erdogan freuen. Aber innen-, außen- und wirtschaftspolitisch könnte die Wende weniger Stabilität für die Türkei und den Nahen Osten bedeuten.

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Sicher, Recep Tayyip Erdo gan hat sich nicht immer so benommen wie sich wirkliche Demokraten benehmen. Eher so, wie sich die Gattung "lupenreine Demokraten" gewöhnlich verhalten. Er hat seine Medien geknebelt, Journalisten und Oppositionelle als Vaterlandsverräter verhaften lassen und politisch liberalere Gegner als Schwulenfreunde gebrandmarkt. Er will die Türkei von einer funktionierenden Demokratie in ein rückwärtsgewandtes Regime verwandeln. Er hat den Geruch längst überwunden geglaubter Zeiten in der Türkei wieder aufleben lassen: Die sunnitisch-muslimische Vision eines osmanischen Reiches und das Wiederauferstehen der alten Traditionen - bis hin zur demonstrativen Lächerlichkeit: Dem phantastischen Serail den er mitten in einem Naturschutzgebiet hochziehen ließ.

Er hat auf seinem Weg seine politischen Freunde ausgebremst oder marginalisiert und internationale Bündnispartner vergrault. Er hat den Beitrittsprozess zur EU gestoppt und die Zypern-Lösung mit vereitelt. Er hat antiisraelische Ressentiments geschürt und sich als unverlässlich innerhalb der NA-TO erwiesen. Er hat in Syrien lange ein doppeltes Spiel gespielt und einerseits Assads Regime unterstützt, dann die Türkei als Durchzugsgebiet für den IS quasi zur Verfügung gestellt.

Das zweite Gesicht der Niederlage

All diese großen und kleinen, unklugen und katastrophalen, abgefeimten und großmannssüchtigen, taktisch schiefen Dinge mag man Erdogan vorwerfen. Und man mag den "Sultan" wegwünschen oder den Sieg der Demokratie feiern, weil seine Partei AKP bei den Parlamentswahlen eine herbe Niederlage erlitten haben (siehe unten). Das tun ja auch alle Kommentarschreiber von Le Monde, über El Mundo bis zur Süddeutschen und der Frankfurter Allgemeinen.

Aber die Niederlage des Sultans hat noch ein anderes Gesicht, und das ist vielleicht noch hässlicher, als alle unschönen Fassaden des Präsidenten selbst. Denn die Türkei steht nun bei aller Entwicklung wieder an einem Punkt, die hohe Chancen auf Instabilität schafft. Innen-, außen- und wirtschaftspolitisch.

"Eine ganz neue Türkei", titelte das Boulevardblatt des Landes, Posta am Montag. Die "neue" Türkei wird zunächst durch eine Phase der politischen Instabilität gehen müssen, weil aufgrund des Wahlergebnisses kaum stabile Koalitionen möglich sind. In anderen Demokratien wäre das kein großes Problem. In der Türkei schon.

Denn an der Regierungsbildung wird sich die Minderheitenfrage entscheiden. Die Kurden sind nun erstmals mit ihrer bunten HDP-Partei breit im Parlament vertreten. Sollte die übermächtige AKP in wenigen Wochen über Präsident Erdogan einen Neuwahlantrag stellen, werden die Kurden verbittert reagieren. Schon jetzt stockt der Friedensprozess, nicht zuletzt auf Betreiben des Präsidenten selbst. Aber durch den jüngst erfolgten Friedensaufruf des Führers der PKK, Abdullah Öcalan, war so etwas wie Hoffnung auf ein Ende der Auseinandersetzungen eingeleitet worden.

Ein von den Kurden als Betrug eingeschätzter Neuwahlbeschluss könnte weiteren, auch bewaffneten Widerstand auslösen. Schon vor den Wahlen hatten die Attentate kurdischer Separatisten drastisch zugenommen und ein Niveau erreicht wie seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr.

Kontrollverlust in Kurdistan

Der Staat hat darüber hinaus die Kontrolle über die Kurdengebiete verloren. Der Friedensprozess, den Erdogan selbst vorbildlich eingeleitet hatte, liegt nach einem gescheiterten Abzug der kurdischen Rebellen in den Irak auf Eis.

Die türkische Armee ist, auch durch die Entmachtung durch Erdogans Politik und den damit verbundenen Verdacht des Staatsstreiches demoralisiert. Und in dem Maße, wie die Moral der Truppen kleiner geworden ist, hat sich das Selbstbewusstsein der kurdischen Peschmerga erhöht.

Die Stadt Kobanê haben sie aus der Gewalt des schwerbewaffneten IS befreit - eine Aktion, die die Türkei eher boykottiert hat, statt sie zu unterstützen.

Die türkische Armee selbst war zwar in einer Kommandoaktion ebenfalls nach Kobanê vorgerückt. Aber nur um den Leichnam eines osmanischen Ahnvaters aus einem Mausoleum zu evakuieren und sich dann sofort zurückzuziehen. "Todesmut für Tote", heißt es seither in Schmähschriften. Die Weigerung Erdogans den Kurden von Kobanê zu Hilfe zu kommen, dürfte maßgeblich zur Niederlage der AKP beigetragen haben und zum Aufstieg der bunten kurdischen HDP-Partei (siehe rechts).

Die ersten, die drohende Instabilität in der Türkei auf bekannt zynische Weise zeigten, waren die internationalen Märkte. Die türkische Lira rutschte gleich nach Bekanntgabe des Endergebnisses um fünf Prozent ab. Damit hat die Lira in den vergangenen sieben Jahren rund 60 Prozent ihres Werts eingebüßt. In einem Land, in dem sich eine überwiegende Zahl an Unternehmen mit Fremdwährungskrediten finanziert, ist das eine schwere Belastung. Lange hat sich die Türkei über die Entwertung der Lira selbst entschuldet. Aber auch dieses Instrument hat die Regierung überreizt weil die eigen Wirtschaft die Last dieser Politik nicht mehr tragen kann.

Trübe Aussichten

Addiert man den gesamten kurzfristigen zum langfristigen Schuldendienst für das Jahr 2015, so ergibt das 26 Prozent des Bruttoinlandsproduktes - ein Wert der weltweit nur noch von Malaysia erreicht wird. Die Auslandsschulden betragen nach den Daten der Bank für internationalen Zahlungsausgleich mehr als 430 Milliarden Dollar. Das allein wäre nicht so schlimm, aber die türkische Zentralbank verfügt über Reserven von nicht einmal 35 Milliarden Dollar. Das ist ein Verhältnis, das dem Indonesiens entspricht. Ein Spezialist der Investmentbank Goldman Sachs sieht die Türkei in einem Bericht des Daily Telegraph bereits in einer "existenziellen Krise. Sie entwertet ständig und muss aber trotzdem in Dollar ihre Schulden zurückzahlen also müssen sie noch mehr Geld drucken. Die Kontrolle ist verloren."

Vor wenigen Jahren schickte sich die Türkei an, die Friedensmacht im Nahen Osten zu werden. Man muss dieser großen Zeit Recep Tayyip Erdogans nicht nachttrauern. Aber damals hoffte man noch auf den Reformator Erdogan. Nun braucht man nicht einmal mehr auf die Einsicht des Präsidenten zu hoffen, weil selbst das zu spät wäre. Weil nun selbst seine Entmachtung einen Sprengsatz zündet, dessen Lunte Erdogan gelegt hat.

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