Der Streit um eine Leitkultur

Der unscharfe Begriff der "Leitkultur" beschreibt jene Werte, die das Zusammenleben und den gesellschaftlichen Konsens in einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft ermöglichen sollen. Der Begriff versucht, den kleinsten gemeinsamen und normativen Nenner zwischen Einheimischen und Immigranten festzulegen. Ein anderer Aspekt - und einer der Gründe für die Entstehung der Debatte in Deutschland -ist die Kritik an und der Kampf gegen Wertebeliebigkeit und die Befürchtung, dass Parallelgesellschaften entstehen oder noch verstärkt werden, wenn nicht geklärt wird, "was unsere Gesellschaft zusammenhält". So lautet auch der Untertitel einer Sammlung von Beiträgen, die vom Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) herausgegeben wurde.

"Identitätsbildender Grundkonsens"

Der Politologe Bassam Tibi führte den Begriff in den späten 1990er-Jahren in die Debatten um Zuwanderung und Integration ein. Sehr rasch entwickelte sich in Deutschland ein Streit zwischen Links und Rechts. Jürgen Habermas argumentierte, dass die Konzeption einer deutschen Leitkultur mit dem Grundgesetz unvereinbar sei. Der schon erwähnte Norbert Lammert forderte eine "europäische Leitkultur", die sich "auf gemeinsame kulturelle Wurzeln, auf die gemeinsame Geschichte, auf gemeinsame religiöse Traditionen" beziehen müsse (Die Welt, 13. Dezember 2005). In der Präambel des Bayerischen Integrationsgesetzes (2016) wurde der Begriff "Leitkultur" verwendet und als "identitätsbildender Grundkonsens" und als "kulturelle Grundordnung der Gesellschaft" definiert. SPD und Grüne reichten eine Klage gegen das Gesetz ein. Die Alternative für Deutschland (AfD) bekennt sich zu einer "deutschen Leitkultur", mit der man sich gegen die "Ideologie des Multikulturalismus" abgrenzen möchte.