Der Tag, an dem du alt geworden bist

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Immer hast Du gemeint, es trifft nur die anderen. Nicht Dich selbst. Und dann ist er plötzlich da, der Augenblick des Altwerdens.

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Immer hast Du gemeint, es trifft nur die anderen. Nicht Dich selbst. Und dann ist er plötzlich da, der Augenblick des Altwerdens.

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Ein Morgen wie jeder andere, ein Alltagsmorgen, es kann zu jeder Jahreszeit sein, der Herbst eignet sich vorzüglich, die Sonne blinzelt, der Traum verfliegt, die geöffneten Augen nehmen die gewohnte Umgebung wahr, es überfällt dich keinerlei körperlicher Schmerz, du steigst mit gelindem Schwung aus deinem Bett, dein Gehirn beginnt mit der Gedankenarbeit, und plötzlich fällt er dir ein wie ein banaler Termin: du bist alt. Die Dramaturgie des Augenblicks verlangt in diesem Falle den nachdenklichen Blick in den Spiegel, aber die Wirklichkeit fordert ihn gar nicht. Der Gedanke, der dich da plötzlich überfällt, bedarf keiner Illustration. Das wirkliche Leben ist kein Film, in dem die Diva nach der ersten Gesichtsfalte späht. Du weißt, wie du aussiehst, und du siehst heute nicht anders aus als gestern. Was dich an diesem Morgen heimsucht, ist kein Gefühl. Gefühle haben es vielleicht vorbereitet, oder Gespräche, gewisse Erfahrungen, auch Lektüre. Was so unvermittelt vor dir steht ist Wissen: Ab heute bin ich alt. Ohne jede Panik, ganz sachlich.

Eine Art Deja-vu-Erlebnis. Denn natürlich hast du längst davon gehört und gelesen, hast dir vernünftigerweise ausgemalt, wie es sein wird. Natürlich weißt du, daß es den Lebensabschnitt Alter für jeden gibt, der ihn erreicht. Aber du hast auch teilgenommen an der Verdrängung, hast dir einreden lassen, daß Alter ganz subjektiv sei und der Mensch nur so alt sei wie er sich fühlt. Wie bei vielen unerfreulichen oder gefährlichen Begebenheiten hast du gemeint, daß es jeden treffen kann außer dir.

Und jetzt stehst du da in diesem alltäglichen Morgen und weißt, da es dich ganz unspektakulär getroffen hat: du bist ab heute alt.

Eine Verwundung, eine Krankheit, ein schmerzlicher Verlust, so hast du dir die Schwelle vorgestellt. Entlassung, Arbeitslosigkeit, Pensionierung, gesellschaftliche Demütigung, das wären Anlässe. Oder sogar rechnerische Einheiten, der soundsovielte Geburtstag, der Blick auf die Statistik. Nichts von alledem heute.

Daß das Alter allmählich komme, schleichenden Schrittes, der unmerklichen Alterung der Zellen gemäß, das hast du gemeint und berücksichtigt. Jedes Jahr hat 8.760 Stunden, das Leben läuft wie eine Uhr. Warum werden diese Stunden, die doch alle 60 Minuten dauern, immer kürzer und du bemerkst es nicht?

Es trifft dich weder wie ein Keulen- noch wie ein Stundenschlag. Es trifft dich mit der Nüchternheit einer ganz gewöhnlichen Feststellung. Abschiede bist du mittlerweile gewohnt, betriebliche, freundschaftliche, sachliche, schmerzliche. Auch einige Beschwernisse hast du an dir bemerkt, langsamere Bewegungen, langsamere Entschlüsse und Erkenntnisse, ärgerliche Vergeßlichkeiten. Du hast das beiseitegeschoben, fast gewohnheitsmäßig. Oder daß dein Haar heller und schütterer wird. Solche Veränderungen sind dir kaum aufgefallen, weil sie in deiner nächsten Umgebung ebenso abliefen. Nur der Blick in alte Fotoalben hat dich manchmal erheitert. Wie sich doch Aussehen und Mode im Laufe der Jahre ändern! Welche Konsequenzen das hat, sehr direkt an dir selbst hat, das ist dir dabei nicht aufgefallen.

Ab heute bist du alt. Unter derselben Sonne, auf derselben Erde, unter denselben Menschen. Plötzlich und unwiderruflich. Eine Tür ist hinter dir zugefallen. Wut packt dich, Schicksalshader mit deiner Freiheit und Selbstbestimmung. Hatte ich kein Recht, bewußt und freiwillig durch diese Tür zu gehen? Wer bestimmt über mich? Es ist sinnlos, sich umzudrehen, an der Tür zu rütteln. Du bist alt - und basta! Wer es nicht annimmt, belügt sich selbst. Du kannst dich lächerlich machen, den reifen Twen oder den lustigen Jungsenior spielen, wie manche deiner Lebens- und Lügengenossen, du kannst vielleicht der ganzen Welt etwas vorgaukeln, nur nicht dir selbst! Begehre nicht auf! Du hast den dritten Lebensabschnitt erreicht, unabhängig von jeder Zahlenbegrenzung. Du weißt es ab heute und hast dich danach zu richten!

Die Gemeinschaft - nein, die Masse - derer, in die du eintrittst, ist groß. Ein Drittel etwa und demnächst die Hälfte aller Leute. Die Statistiker, die von einem Generationenvertrag reden, den es nicht gibt, rechnen alle Pensionisten zu den Alten. Doch das ist kein Kriterium. Entscheidend ist dieser Augenblick wie heute morgen, das Bewußtwerden des Altseins. Das läßt sich statistisch nicht so leicht erfassen. Vielleicht gibt es Achtzig- oder Neunzigjährige, denen ihr Alter noch nicht bewußt geworden ist, die vor sich hinaltern ohne es zu wissen. Vielleicht gibt es Vierzig- oder Fünfzigjährige, die aus irgendwelchen Gründen ihr Alter schon gepackt hat, die wissend geworden sind vor ihrer biologischen und statistischen Zeit.

Die Soziologen treffen Einteilungen: die jüngeren, die mittleren, die älteren Alten. Das sind Hilfswissenschaften für den Markt. Denn abgeschrieben sind die Alten ja nicht für den Konsum, solange sie kaufen und verbrauchen, solange sie für ihre Bedürfnisse bezahlen. Der Großvater, der mit seinen Enkeln auf Abenteuerjagd geht, der als munterer Geck ein Tänzchen wagt, ist ein beliebtes Medienbild. Soferne er die richtigen Muntermacher-Medikamente nimmt und richtig versichert ist. Die anderen kommen nur in der Dokumentation ins Bild, aber nicht mehr zu Wort. Apathisch auf der Bank sitzend, mürrisch über den Gang im Altersheim schlurfend, von der leicht mitleiderregenden Stimme eines allwissenden Kommentators begleitet. Dann erscheint die sogenannte Alterspyramide und die Frage, wie lange das noch so weitergehen soll, wie lange die arbeitenden Jungen das ertragen sollen und wollen.

Seit etlichen Jahren verweisen die Werbestrategen der Wirtschaft auf das Kaufkraftpotential der Alten. Es gibt Seniorenreisen und Seniorenzeitungen und Seniorenklubs. Es gibt die kommunalen Seniorenausflüge mit Seniorenjausen, es werden Seniorentage und Seniorenwochen veranstaltet, weil die Politiker das Stimmenpotential der Alten kennen und umwerben. Willst du mitmachen in diesem wohlorganisierten Trend vom Händedruck bis zur Blutdruckmessung und Broschüre? Fällt dir nicht auf, daß der Trend in der Öffentlichkeit wenig Resonanz findet? Wieviele Auslagen junger Mode, angefangen vom Baby-Look - und wo bleibt die Seniorenmode? Wieviele Sonderpreise und Sonderangebote, um Nachwuchs-Interesse für Veranstaltungen aller Art zu fördern - und für dich ein Abend Seniorenturnen und die Halbpreiskarte auf der Eisenbahn!

Mach dir nichts vor, du bist bestenfalls umsorgt, aber nicht erfordert in der dynamischen Leistungsgesellschaft. Du und deinesgleichen, ihr seid selbst schuld mit eurer Gefügigkeit auf dem Abstellgleis der sozialen Demenz. Berücksichtigt werden ist keine Gleichberechtigung. Ist die luxuriöse Tristesse amerikanischer Sun-Cities ein legitimer Wunsch? Oder das Ghetto komfortabler Senioren-Residenzen? Winkt schon das Banner der Altersrevolte, der Grauen Panther, statt jener müden Parteipensionistenvereinigungen zur Ruhigstellung der betagten Klientel?

Wie ein seltsamer Tierfilm über aussterbende Arten zieht an diesem Morgen eine Szenenfolge durch deinen Kopf, in der du dich als Mitspieler siehst. Wo wird, da du jetzt alt bist, dein Platz sein in dieser neuen Altenwelt? Dankbar fühlst du die Hand deines Lebensmenschen, deiner Gattin. Sie ist ein paar Jahre jünger als du und wundert sich über deine Anwandlungen an diesem Morgen. Eigenartig wirst du, denkt sie, halt schon älter. Daß du heute alt geworden bist, weiß sie nicht. Daß eine Tür hinter dir zugeschlagen hat und ein Hauch von neuer Einsamkeit dich anweht, wie das erklären? Ihre praktische Natur hält nichts von Gedankenspielen. Sie wird dich überleben, wenn die Statistik der durchschnittlichen Lebenserwartung im Einzelfall zutrifft. Wie wird sie ohne dich zurechtkommen? Sicherlich besser als du ohne sie. Und überhaupt, ihr Programm ist Lebensfreude, Carpe diem, und ihr tägliches Ziel, dich anzustecken und anzustiften dafür und damit. Dein Alter interessiert sie in Sorge um Gesundheit und Fitneß, aber nicht als Problem.

Fitneß, das ist es! Geistig und körperlich. Das empfehlen sie dir alle, die Ratschlagonkel der Medien, Institutionen und Literaturen. Morgenturnen, Kneippschlauch, Gesundheitstee, Gedächtnisübung, Wandern, Radfahren, Tanzen, Gewichtskontrolle, Blutdruckmessung. Die Leistungsgesellschaft braucht dich nicht mehr, aber sie wünscht Anpassung. Du sollst nicht auffallen oder gar zur Last fallen durch Gebrechlichkeit oder Krankheit. Du sollst lange leben.

Wozu sollst du gesund bleiben und lange leben? Du bist eine Altlast, für die deine Kinder oder andere Junge rackern und zahlen müssen. Du kannst ihnen dafür, nicht wie die Alten von einst, keine reiche Erfahrung schenken. Die brauchen sie nicht im Cyberspace und in der globalisierten Wirtschaft, von der du nichts verstehst. Nur nicht im Wege stehen!

Nur keinen Platz beanspruchen, der den Hochleistern der Gesellschaft vorbehalten ist! Nur kein Besserwisser oder Kritiker sein! Am besten steht dir die Demutsgeste. Dabei sollst du dich engagieren, als braver Kassier oder Schriftführer im Verein, als Wohlfahrtsfunktionär, als Zuhörer und Statist. Du darfst und sollst auch kreativ sein, aber daheim und für dich. Die hochleistenden Zeitgeister schätzen es gar nicht, wenn du dich mit Ideen hervortust, die schon wegen deines Alters nicht neu sein können. Der Rat der Ältesten ist vielleicht noch bei einigen primitiven Urwaldstämmen gefragt und respektiert, aber nicht im hochentwickelten Zeitgeist der modernen Kultur. Du kannst ein Seniorenstudium beginnen und den verhinderten Wissensdrang deiner Jugend nachholen. Deine Kommilitonen freuen sich, wenn du sie abschreiben läßt und ihnen in Prüfungsängsten beistehst. Die ganze Universität freut sich, weil du ihre Hörerstatistik erhöhst, ohne den Arbeitsmarkt zu belasten. Soferne du nicht ein Fach wählst, in dem die Studienplätze knapp sind. Die Geisteswissenschaften sind ein dankbares Feld. Und ein junger Professor hat auch ein wenig Nachsicht im Prüfungsverfahren, denn er muß ja nicht fürchten, daß er später eine Wissenslücke in deinem diplomierten Beruf mitverantworten muß.

Du kannst dich nützlich machen. Manchmal bist du wirklich nützlich. Öfter aber bemerkst du, daß die Situation, in der du dir nützlich vorkommst, eigens für dich geschaffen wurde. Daß dir einer eine nützliche Aufgabe zuweist, damit du dir nützlich vorkommst. Du kannst es darauf ankommen lassen und dich einmal verweigern - und du wirst erleben, daß der vermeintliche Nutzen unnütz war.

Bemerke es, aber laß es dir nicht anmerken. Du kennst den Satz von der unersetzlichen Lücke, den sie immer benützen, wenn da einer zu feiern und zu ehren und zugleich zu verabschieden ist. Du weißt, daß die Lücke gefüllt und ersetzt ist, ehe der Satz verhallt.

Du bist ab heute alt. Du bist ersetzlich, du bist schon ersetzt. Die höflichen Leute grüßen dich, weil du höflich zu lächeln verstehst. Die neuen Macher grüßen dich nicht mehr, weil du kein Posten in ihrer Kalkulation bist. Du bist ein Relikt und ißt das Gnadenbrot. Kränke dich nicht! Dein Trost kann sein, daß du nicht allein bist und der graue Panther in dir schlummert.

Dein Blick ist klar an diesem Morgen. Er taucht wie die milde Sonne aus dem verhangenen Himmel. Du sieht die ganze Realität in ihrem Durchschnitt pessimistischer und optimistischer Perspektiven.

Du bist alt. Ein wenig Urgestein, ein wenig Lebenskünstler, vor allem aber frei, so frei wie noch nie in deinem Leben. Du hängst im sozialen Netz und sollst es nicht als Fessel fühlen. Du bist in eine Art Urzustand zurückgekehrt, in dem das Dasein nicht nach seinem Nutzen bewertet wird. Du brauchst dich deiner Nutzlosigkeit nicht zu schämen, so wenig wie die ganze Natur in all ihrer Pracht sich nicht schämt. Jede Blume blüht für sich selbst und nicht für ihre Betrachter und Benutzer.

Ja, ich bin unnütz. Ich habe nicht die Pflicht, mich dem Nutzen anzubiedern. Ich habe weder die Pflicht, mein Leben zu verlängern, noch es zu verkürzen. Ich kann dieses Leben einfach leben.

Daran mußt du dich gewöhnen, das mußt du lernen, wenn du alt bist. Das mußt du ohne Bitterkeit tragen können. Beeile dich damit, denn wenn erst die Leiden des Alters kommen, mußt du es schon beherrschen.

Alter macht frei, auch in der Seniorenschwemme! Freiheit ist nicht Teilnahms- und Verantwortungslosigkeit. Des Schreckens Grenze ist heiter. Ein neuer Tag beginnt.

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