Werbung
Werbung
Werbung

Horst-Eberhard Richter, Psychoanalytiker und Vater der deutschen Friedensbewegung, über den Fall Sarrazin, die Menschenferne der Politik und die Suche der Gesellschaft nach Gott.

Horst-Eberhard Richter fordert ein neues Bewusstsein, um die menschliche Gesellschaft aus ihrer ökonomischen, politischen und moralischen Krise zu führen. Ein FURCHE-Interview mit dem bekannten deutschen Sozialphilosophen.

Die Furche: In Ihrem neuen Buch beklagen Sie eine Brutalisierug, eine moralische Verrohung und ein Schwinden der Sensibilität in der Gesellschaft. Ist die seit Monaten immer wieder hochkochende Sarrazin-Debatte Ausdruck dieser Missstände?

Horst-Eberhard Richter: Das ist eine heikle Debatte. Die in ihr durchschimmernden Vorurteile sind unerträglich. Ist es nicht erstaunlich, dass nach Umfragen und Studien gerade in Gegenden, in denen viele Ausländer leben, die Vorurteile am geringsten sind, während sie gerade dort hoch sind, wo wenige Zuwanderer leben? Das bestätigt uns auch die Erkenntnis von Zygmunt Bauman, der herausgefunden hat, dass der Antisemitismus in Deutschland erst dann richtig Fuß fasste, als die Juden in der Öffentlichkeit kaum mehr zu sehen waren. Es lässt sich leichter eine Kampagne gegen Gruppen machen, wenn man gar nicht mehr mit ihnen in Berührung kommt. Aber es gibt noch ein anderes Element dieser Debatte, das aufhorchen lässt. Das ist eine generelle Stimmung des Unwillens.

Die Furche: Sie meinen eine Stimmung gegen die Politik?

Richter: Ja. Viele empören sich darüber, wie von der Politik mit Sarrazin umgegangen wurde. Es macht ein generelles tiefes Misstrauen gegenüber der Politik deutlich. Die Bevölkerung fühlt sich immer mehr abgehängt von der politischen Klasse. Ein paar Beispiele: Seit neun Jahren votieren Mehrheiten gegen Fortsetzungen bzw. Verstärkungen des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Protestiert wird gegen Castor-Transporte. Mehrheiten empören sich gegen die Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken, aber auch gegen Sparbeschlüsse der Regierung zu Lasten der sozial Schwachen. Die Leute wollen von der Politik mehr gehört werden. Es melden sich deshalb immer mehr Menschen mit der Forderung nach mehr direkter Demokratie.

Die Furche: Die Politik behauptet doch immer, sie habe ihr Ohr ganz nahe beim Volk, wenn es um dessen Bedürfnisse gehe. Etwa beim Schutz vor Kriminalität oder internationalem Terror.

Richter: Das Volk merkt, dass ihm künstlich übertriebene äußere Bedrohungen eingeredet werden, um schärfere Kontrollen und Überwachungsgesetze durchzusetzen. Bei einer Umfrage nach Ängsten im Lande rangierte die Angst vor Terroristen erst an 10. Stelle. An zweiter Stelle wurde die Angst vor der Bürgerferne der Politiker genannt. Im Folgejahr strich man die Frage nach der Angst vor Bürgerferne der Politik, offenbar um sich eine neuerliche Konfrontation mit der Bürgerunzufriedenheit zu ersparen.

Die Furche: Sie gehen ja auch mit den "inneren Werten“ der Politik hart ins Gericht. Demnach scheinen viele der aktiven Personen eigentlich nicht zur gesellschaftlichen Führung geeignet.

Richter: In der Politik, aber auch in der Gesellschaft allgemein lässt das Wertebewusstsein nach. Kurzfristige Opfer zu bringen, um langfristig vorzusorgen, fällt immer schwerer. Überschuldungspolitik zu Lasten kommender Generationen ist zur Normalität geworden, 30 Jahre wurde eine vorausschauende Klimapolitik verschlafen. Schneller Erfolg zählt mehr als Beständigkeit und Verlässlichkeit. Flexibilität ist zum Machtwort des Zeitgeistes geworden. Es heißt zu Deutsch: Krümmbarkeit und Verbiegbarkeit. Psychische Korruption ist zur Mode geworden.

Die Furche: Diese psychische Korruption ist demnach auch der Weg zu Brutalisierung und Verrohung der Gesellschaft?

Richter: Psychische Korruption macht aus einer "Wir-Gesellschaft“ zunehmend eine "Ich-Gesellschaft“, die weniger mitfühlend ist und auch weniger Skrupel hat. Psychische Korruption ist eine Unart. Aber ihr haftet auch etwas Krankhaftes an. Der Atomphysiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker hat einmal Friedlosigkeit als psychische Krankheit beschrieben. Auch im Verrat des Gewissens in der psychischen Korruption kann sich eine psychische Störung manifestieren. Unbewusste Selbstvorwürfe für korruptes Verhalten können psychosomatische Symptome hervorrufen. Dafür haben wir Psychoanalytiker viele Beispiele. Nachlassende psychische Selbstkontrolle kann aber auch aus Resignation herrühren.

Die Furche: Demnach wäre für Sie einer der Auswege geistiger Widerstand.

Richter: Aber geistiger Widerstand braucht Selbstachtung und soziales Verantwortungsgefühl.

Die Furche: Sie beklagen in Ihrem neuen Buch, dass sich die Psychoanalyse eigentlich zurückgezogen habe aus der Gesellschaft und aus der Diskussion. Wie wichtig wäre denn so eine soziale Analyse?

Richter: Sehr wichtig. Freud sagte ja schon vor 100 Jahren: Wir müssen der Gesellschaft ihre Schäden und Fehler vorhalten. Damit werden wir uns nicht beliebt machen. Aber das ist unsere Funktion. Wir müssen an die gesellschaftlichen Verdrängungen ran und dürfen uns davor nicht drücken. Leider gehöre ich inzwischen zu einer kleinen Minderheit von Kollegen, die Psychoanalyse auch auf Politik und Gesellschaft anwendet.

Die Furche: Ein Grund, den Sie für die Verzweiflung des Menschen ausgemacht haben, ist der Gotteskomplex. Der Mensch habe seine Hoffnung verloren.

Richter: Bis zur Renaissance gab der Glaube dem Menschen Halt, und die Kirche war für ihn die Gnadenhelferin. Doch diese Geborgenheitsgewissheit schwächte sich im Spätmittelalter ab. Gleichzeitig entdeckte der Mensch in der Wissenschaft eine Chance, selbst die Gefahren zu berechnen und da und dort auch zu beherrschen, um sein Ohnmachtsgefühl zu überwinden. Die Neuzeit begann mit einem raschen Anwachsen dieses menschlichen Herrschaftswillens und dem Traum, sich immer mehr dem Bild der göttlichen Allmacht anzunähern. Es entstand in der wissenschaftlich technischen Revolution der Wahn vom Fortschritt zu einer Art Übermenschlichkeit, immer begleitet von der Angst vor heilloser Ohnmacht. Doch nun sind es die Spitzenforscher in der Atomphysik und in der Computer-Wissenschaft, die uns lehren, wieder Halt im Inneren, in der Ehrfurcht, im Herzen zu suchen. "Eines inneren Friedens fähig werden, werden wir nicht durch unser Verdienst, sondern weil wir geliebt sind“, schrieb der Atomphysiker Carl Friedrich von Weizsäcker. Und mein Freund Joseph Weizenbaum, Pionier der Computerwissenschaft, versicherte in seinem hinterlassenen Vermächtnis: "Gott gibt es, denn Gott ist die Liebe, und Liebe ist in uns allen.“

* Das Gespräch führte Oliver Tanzer

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung