Wir wissen, dass der Antiamerikanismus in der Gegend mit jedem Tag wächst. Wir wissen, dass die Sympathien für Bin Laden vor Ort zunehmen. Dabei spreche ich nicht nur von Afghanistan. Auch die Nachbarstaaten stehen an der Kippe zum Bürgerkrieg. Zwischen Indien und Pakistan erleben wir neue Spannungen - und zwar sehr schlimme Spannungen. Das sind derzeit die größten Probleme. Ich hoffe, dass Pervez Musharraf, der Präsident von Pakistan, sein Volk einigermaßen im Griff halten kann und es nicht zu einem Bürgerkrieg kommt, denn sonst hat Osama Bin Laden genau das erreicht was er will: nämlich einen 20jährigen Weltkrieg.
Im Moment stehen wir vor dem Problem der humanitären Hilfe. Der Winter steht vor der Tür, das steht in jeder Zeitung. Die Überlebenschancen der Afghanen - ich kenne das Land sehr gut - sind nahezu null, wenn sie keine Hilfe kriegen. Ich meine jetzt die Frauen und die Kinder, die Taliban und die Krieger werden sich schon irgendwie die zum Überleben notwendigen Dinge organisieren.
Der Friedensprozess wird sicherlich am Beginn nicht über Wahlen stattfinden können. Wer soll denn wählen? Die Leute können nicht lesen und schreiben, weil sie seit 20 Jahren keine Schulen mehr haben. Wir bauen uns hier in Europa irgendwelche Luftschlösser: Afghanistan soll ein Land sein, mit einem Bildungsniveau, das dem unsrigen vergleichbar ist. Die Burschen dort können heute ein Maschinengewehr betätigen, aber keinen Bleistift führen. Und die Mädchen und die Frauen haben sowieso kaum eine Ausbildungschance gehabt. Ich bin der Meinung, dass natürlich alle Afghanen in den demokratischen Prozess mit hineingenommen gehören, was sicherlich nur über eine Art Marshallplan passieren kann. Dieser muss vom Westen aber nicht nur finanziert, sondern auch mit demokratischem Know-How gespeist werden.
Reinhold Messner ist Grüner Abgeordneter im Europäischen Parlament.
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