Diagnose Multiple Sklerose

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Multiple Sklerose ist eine heimtückische Erkrankung: Der Verlauf ist in keiner Weise vorhersehbar. Ärzte wollen jetzt aufklären und Mut machen: "MS heißt nicht Rollstuhl!"

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Multiple Sklerose ist eine heimtückische Erkrankung: Der Verlauf ist in keiner Weise vorhersehbar. Ärzte wollen jetzt aufklären und Mut machen: "MS heißt nicht Rollstuhl!"

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Meine Krankheit beginnt vor zehn Jahren mit einer Sehnervenentzündung. Nach vier symptomfreien Jahren machen sich in den Fingerspitzen Sensibilitätsstörungen bemerkbar, die auch heute noch feinmotorische Tätigkeiten beeinträchtigen. Es vergehen drei bis vier Jahre - nach und nach fühle ich bei längeren Wanderungen eine Schwäche im rechte Bein, ein Symptom, das anfangs wochenlang verschwindet, um schließlich immer deutlicher und stärker wiederzukehren." Gabriele Lachmanns Gesundheitszustand verschlechtert sich schleichend. Ein Orthopäde äußert schließlich den Verdacht, der nach einer neurologischen Untersuchung Gewißheit wird: Multiple Sklerose (MS).

Die heute 40jährige ist eine von rund 10.000 Menschen, die in Österreich an Multiple Sklerose leiden. Aktuelle Studien belegen, daß jeder tausendste Österreicher irgendwann in seinem Leben mit der Diagnose "MS" rechnen muß, Frauen sind zwei- bis dreimal so häufig von der Krankheit betroffen wie Männer. Für viele eine Schreckensvorstellung: MS wird meist mit einem Leben im Rollstuhl gleichgesetzt.

Stimmt nicht, meinen österreichische Ärzte, die sich im Zuge des "Jahr des Gehirns 1999" dem Thema MS angenommen haben und nun aufklären wollen. Der Appell der Ärzte: "MS heißt nicht Rollstuhl!"

Die Erkrankten haben gegenüber dem Durchschnitt der österreichischen Bevölkerung eine nur leicht eingeschränkte Lebenserwartung. Viele Patienten bleiben über Jahrzehnte unbehindert, die Hälfte arbeitsfähig, und ein Viertel der Betroffenen bleibt über Jahrzehnte zumindest eingeschränkt arbeitsfähig. Nur ein Viertel zeige einen ungünstigen Verlauf.

MS ist eine chronische Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems. Entzündungsherde treten an unterschiedlichen Orten des Nervensystems (Gehirn und Rückenmark) auf. MS gehört gemeinsam mit der von Zecken übertragenen FSME zu den häufigsten entzündlichen Erkrankungen des zentralen Nervensystems.

Schwierige Diagnose Die Ursachen sind bis heute nicht geklärt. Mediziner vermuten, daß MS als eigenständige Krankheit gar nicht existiert. Viele unterschiedliche Ursachen dürften bei entsprechender genetischer Veranlagung einen chronischen Krankheitsprozeß in Gang bringen. "Die Multiple Sklerose ist aber keine Erberkrankung", unterstreicht Universitätsprofessor Karl Vass von der Universitätsklinik für Neurologie in Wien. So unterschiedlich die Krankheitsauslöser sind, so differenziert sind auch die auftretenden Symptome. Der Verlauf der Krankheit ist ebenfalls sehr variabel und keinesfalls vorhersehbar. "Das klinische Erscheinungsbild der Erkrankung kann sehr bunt sein", bestätigt Vass - wodurch die endgültige Diagnose für den Arzt schwierig zu stellen ist und oft erst nach Jahren definitiv ausgesprochen wird.

Ein weiteres bisher ungelöstes Rätsel von MS ist dessen unterschiedliche geographische Verbreitung. MS kommt nicht überall gleich häufig auf der Erde vor. Hochrisikogebiete sind Nord- und Mitteleuropa, Nordamerika und Südaustralien. MS ist somit eine Krankheit, die vor allem in gemäßigten Klimazonen auftritt. Die Erkrankung wird in Richtung zum Äquator seltener. Bemerkenswert dabei ist, daß Kinder bis zum 15. Lebensjahr das Risiko des Einwanderungslandes übernehmen. Erwachsene dagegen behalten das Risiko ihres Heimatlandes.

Der Verlauf der Krankheit zeigt nur bei 15 Prozent der Betroffenen kontinuierliche Verschlechterung. Diese aggressive Form der Erkrankung trifft vor allem junge Menschen. Innerhalb relativ kurzer Zeit führt MS dabei zum Tode oder zu schwerer Behinderung.

Beim Großteil der Patienten (85 Prozent) beginnt MS mit einem Erkrankungsschub. Die Beschwerden legen sich meist wieder vollständig. Der nächste Schub setzt Monate oder sogar Jahre später ein. Dazwischen verschlechtert sich die Krankheit nicht. Bei einem Krankheitsschub entzünden sich die Nervenbahnen von Gehirn und Rückenmark. Das, so die Mediziner, sei mit einem Kabelbrand vergleichbar: An einer Stelle entsteht eine Entzündung, durch die die Stromleitung beeinträchtigt wird. Bleibende Schäden treten auf, wenn bei diesem Kabelbrand die Isolierschicht (Myelinschicht) der Nervenbahnen zerstört wird.

Jedoch sind Patienten auch noch viele Jahre nach Ausbruch der Erkrankung meist nicht oder kaum behindert. Die häufigsten Symptome zu Beginn sind Störungen des Tastsinns (40 Prozent) und der Sehnerven (35 Prozent). Auch Lähmungen treten bei einem Drittel der Erkrankten auf. Allerdings verschlechtert sich der Zustand der Patienten nach mehreren Jahren durch die Krankheitsschübe immer mehr.

Auch bei Gabriele Lachmann verschlimmerte sich die körperliche Verfassung nach der Diagnose: "Im Laufe eines Jahres hat sich mein Zustand verschlechtert. Meine Bewegungen sind eckig und schwerfällig, wenn ein Hindernis im Weg steht, ich schnell um eine Ecke biege oder auf der Straße ausweichen soll. Aufgeben kommt für Gabriele Lachmann aber nicht in Frage: "Ich nehme diese Krankheit als Herausforderung an."

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