Dickenhatz und Kilojäger

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Der Kampf gegen das Fett treibt seltsame Blüten: Während sich Übergewichtige zunehmend diskriminiert fühlen, leiden immer mehr Schlanke unter "Orthorexie" - der krankhaften Beschäftigung mit gesundem Essen.

Arkansas macht mobil: Lange Zeit sah man tatenlos zu, wie die Kids runder und runder wurden. Doch nun ist die Zeit der Toleranz gegenüber dem XXL-Nachwuchs vorbei: Seit heuer teilen die Schulen den Eltern in so genannten "Fettbriefen" den Body Mass Index (BMI) ihres Kindes mit (siehe Kasten). Dem nicht genug ist der detaillierte Gewichtsreport jeder einzelnen Schule im Internet nachzulesen. Nüchtern betrachtet scheint die Maßnahme gerechtfertigt: Immerhin sind 38 Prozent der Schüler im US-Bundesstaat Arkansas zu dick. Nur in Mississippi sind die Amerikaner noch fülliger.

Die Betroffenen nehmen das peinliche Outing (noch) gelassen. Anders ihre Leidenskollegen in Großbritannien: Dort fühlen sich immer mehr Übergewichtige diskriminiert und vom "Fettismus" verfolgt. Fett, so ihre Klage, sei das neue Schwarz geworden.

Fett - das neue Schwarz

Indes geht es auf dem Kontinent noch gemächlich zu, obwohl sich die Gleichung "schlank = leistungsfähig" auch hier in immer mehr Köpfen festzusetzen droht. "Deutschland ist zu dick, und es wird immer dicker", wettert etwa die deutsche Gesundheitsministerin Renate Künast in ihrem neuen Buch "Die Dickmacher" (Riemann Verlag). Jeder zweite Deutsche leide an Übergewicht (BMI 25 bis 30), knapp 20 Prozent seien sogar fettleibig (BMI über 30).

Im Vergleich dazu schneidet Österreich etwas besser ab, weiß Anita Rieder vom Institut für Sozialmedizin der Universität Wien: Hierzulande seien "nur" elf Prozent der Bevölkerung adipös (fettsüchtig) - mit einer besonderen Häufung in den unteren Bildungsschichten, so Rieder.

Doch Folgeerkrankungen wie Bluthochdruck und Diabetes schöpfen auch hierzulande die Krankenkassen-Töpfe leer. Entsprechend drastische Ideen werden präsentiert, um der grassierenden Fettsucht zu Leibe zu rücken: So schlägt etwa der Wiener Internist Bernhard Ludvik zur Prävention unter anderem fiskalische Maßnahmen vor - also eine "Fettsteuer" entsprechend der Tabaksteuer.

Kein Wunder also, dass die Zahl der Kalorienzähler steigt - und damit auch derjenigen, bei denen die Beschäftigung mit gesundem Essen schon krankhafte Züge trägt. Sie leiden unter einer neuen Form der Essstörung: der Orthorexia nervosa.

Die Betroffenen berechnen Vitamin- und Mineralstoff-Gehalt jeder Mahlzeit, verteufeln Lieblingsgerichte als Zucker- und Fettbomben und kreieren Menüpläne, auf denen sich nur Obst und Gemüse findet. Die ständige Sorge um die Gesundheit führt zu einer krankhaften Fixierung, die keinen Genuss mehr zulässt. Dabei verderben die Fanatiker sich nicht nur selbst das Essvergnügen, sondern auch ihren Angehörigen. Letztendlich landen viele Betroffene in der Isolation.

Zelebriertes Essen

"Essen ist eben mehr als nur Nahrungsaufnahme", betont der Wiener Sozialmediziner Michael Kunze: Der Stressgeplagte würgt schnell zwischendurch die Leberkäsesemmel hinunter und verschafft sich mit dem nachfolgenden Schokoriegel ein kurzes Glücksgefühl. Das Geschäftsessen wird dagegen in zehn Gängen zelebriert. Da hätten unsere Vorfahren nicht schlecht gestaunt, bestimmten doch vom Ursprung der Menschheit an Mangelzustände die Ernährung. Die drei Hauptmahlzeiten - eine davon warm, bitteschön! - sind eine Erfindung späterer Jahrhunderte. Nichts weiter als die biederen Wunschbilder des Bürgertums, die mit der heutigen Lebenssituation kaum noch harmonieren.

Der Grundstein vieler Essstörungen wird in der Kindheit gelegt, weiß Kunze: "Kinder sind Snacker', sie bevorzugen mehrere kleine Portionen über den Tag verteilt." Vielen Eltern ist dieses Verhalten ein Dorn im Auge, denn es widerspricht ja den über Generationen weitergegebenen Ess-Idealen. Kommen dann noch rigorose Verbote bestimmter Speisen hinzu, ist die Basis für die spätere Essstörung geschaffen.

Der Psychiater Johann Kienzl, Co-Autor des Buches "Besessen vom Essen" (siehe Buchtipp), sieht die Wurzel des Übels "Orthorexie" im Streben nach Selbstverwirklichung. Askese in Zeiten der materiellen Überversorgung symbolisiere Stärke und verleihe Selbstbewusstsein.

In Österreich leiden 7.400 Mädchen und Frauen zwischen 15 und 29 an Anorexie (Magersucht). Männer trifft diese psychosomatische Erkrankung deutlich seltener. Sie eifern augenscheinlich in geringerem Ausmaß dem gängigen Schönheitsideal nach, das im Bereich des beginnenden Untergewichts liegt. Es sind auch meistens Frauen, die sich aus rein ästhetischen Gründen den absonderlichsten Hungerkuren unterziehen. Barbara Scheuermann, die als diplomierte Diätassistentin die Bad Gleichenberger Johannisbrunnen AG berät, kennt das Phänomen zur Genüge. "Je eigenartiger die Diäten klingen, umso eher werden sie angenommen." So wird etwa Kohlsuppe als "magisch" bezeichnet, weil der Körper angeblich so viel Energie in deren Verdauung stecke, dass man vom Essen schlank wird. Ein Ammenmärchen.

Als langweilig gilt im Gegenzug, wer das naheliegendste Mittel zur Gewichtsreduktion - und -stabilisierung - propagiert: eine normale, gesunde Mischkost.

BUCHTIPP:

BESESSEN VOM ESSEN

Von Johann Kinzl, Ingrid Kiefer,

Michael Kunze. Kneipp Verlag, Leoben, Wien 2004. 112 Seiten, e 17,90.

BMI

Der Body Mass Index berechnet sich aus dem Körpergewicht in Kilogramm dividiert durch die Körpergröße in Metern zum Quadrat. Beispiel: 70 kg/(1,70m)2 = 24,4. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO gilt ein BMI zwischen 20 und 25 als optimal.

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