Die allein gelassene Jugend

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Reale Gewalt wie der Amoklauf in Deutschland provoziert die Frage nach der Rolle der Medien. Antworten liegen in der Zuwendung für die Jugend und der Notwendigkeit von Medienpädagogik.

Gewalt hat in den Massenmedien wieder Hochsaison. Das Publikum wird konfrontiert mit Amokläufen in den USA und in Deutschland, mit Monstern vor Gericht in Österreich. Und das im normalen Alltag, nicht als Hauptabendprogramm, wo wir es ja gewöhnt sind. Begleitet werden die Berichte von Bestürzung und Rufen nach härteren einschlägigen Gesetzen. Zur Ergänzung gibt es den Hinweis, es gebe keine absolute Sicherheit. Dazu passt, dass vor gut einem Monat ein Zitat aus Kindermund aus einem britischen TV-Projekt folgende Headline ergab: "Hoffentlich kratzt ihr bald ab".

Im Anschluss an den Amoklauf eines jungen Mannes wird - zum wievielten Mal? - das Problem der mangelnden Kommunikation zwischen den Generationen und der Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen thematisiert.

Was für ein Licht wirft das auf die Verantwortung, die wir - die Zivilgesellschaft - bereit sind, für die Jugend zu übernehmen? Passen die Gesetze? Müssen wir über das Rechts- und das Unrechtsbewusstsein der Jungen sowie der Erwachsenen nachdenken? Sollten wir nicht Fragen nach Erziehung und Bildung stellen?

Formal ist der Schutz der Jugend in Bezug auf Medien in Deutschland deutlich besser geregelt als in Österreich, aber eingehalten werden die Regeln weder hier noch dort. Profit geht vor Verantwortung. Trotz Alterskennzeichnung können Kinder für sie nicht freigegebene Produkte (Computerspiele, DVDs, Kinokarten) erwerben, im Fernsehen für sie Ungeeignetes sehen, es aus dem Internet abrufen. Ein absurder Zustand, aber im Zusammenhang mit Kindern und Gesellschaft ist vieles absurd.

Der Zugang zu Formen der Anwendung von Gewalt als Lösung von Problemen oder gar als Lust beginnt in frühester Kindheit. Die Desorientierungen im körperlich-sexuellen Erscheinungsbild werden als normal hingenommen, denn wir wollen ja nicht prüde sein, oder? Erwachsene erfüllen sich egoistisch ihre Bedürfnisse in der Öffentlichkeit. Die geballte Kraft von Medien und Werbung ergibt ein Menschenbild, von dem keiner will, dass es Realität wird, doch das zunehmend Realität - nicht nur Reality - ist.

Schooling für Tomorrow

Als erwachsener Mensch dem allen gewappnet zu sein, das ist Aufgabe von Erziehung und Bildung. Laut OECD-Vision muss die Schule auf die Zukunft vorbereiten. Auf Jobs, die es noch nicht gibt, auf (Kommunikations-) Technologien, die noch nicht erfunden sind und darauf, Probleme zu lösen, die wir jetzt noch gar nicht abschätzen können. Schülerinnen und Schüler müssen dazu hingeführt werden, mit ihrer Freiheit umgehen zu können. Das heißt, Unruhe und Veränderung bewältigen, mit der Wahlfreiheit von Identität, Lebensstil und Beruf leben können. Und es bedeutet, mit weniger gesellschaftlichen Regeln und mit sich auflösenden Grenzen zurechtzukommen. Henno Theisens hat dies in "Schooling for Tomorrow" eindrücklich dargelegt.

Es ist ja ein Dilemma: Eigentlich müssen wir die Jugend auf eine Gesellschaft vorbereiten, die keinen Halt, keine Sicherheit mehr gibt, also auf ein Leben voller Risiko. Ich stelle hier die Frage an jeden einzelnen Lehrer, jede Lehrerin, ob er bzw. sie sich dazu in der Lage fühlt und wenn nein, was er/sie bereit ist, dafür zu tun, es zu lernen, und wie weit die Aus- und Weiterbildungsangebote dem Rechnung tragen, was eigentlich von ihnen an den Schulen gefordert wird.

Schule ist vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse und mit dem Wissen, welchen Herausforderungen Menschen gewachsen sein müssen, neu und vom Kind ausgehend zu denken. All die Prinzipien und Formen von Kindermitbestimmung, Eigenverantwortung, Persönlichkeitsbildung sollten seit der Reformpädagogik, die inzwischen 100 Jahre alt ist, Allgemeingut in der Lehrerschaft sein. Wir brauchen eine verlässliche Schule, aus der Sicht der Kinder ebenso wichtig wie aus jener der Eltern. Kinder brauchen Schulen als Lebensräume, in denen sie mit Erwachsenen die Gestaltung ihres Lebens planen, für sich entwickeln können, an denen sie die Voraussetzungen für ein gelingendes Leben erwerben können.

Jugend braucht vor allem Zeit

Die wesentlichsten Grundbedürfnisse, die wir Kindern nicht vorenthalten dürfen, sind die nach Sicherheit und dem Gefühl, angenommen zu sein. Ausdruck dafür ist die Zeit, die wir Erwachsene ihnen widmen, ist das Gespräch über so vieles, das sie nicht verstehen können, das sie nicht relativieren können, wie etwa die Erfahrungen, die sie über Medienkonsum machen. Jüngere Kinder unterscheiden nicht zwischen medialen und realen Erfahrungen, und ohne Hilfe kann hier leicht ein falsches Weltbild entstehen.

Neben Gesprächen über ihre Medienerlebnisse ist es ihnen wichtig, selbst Medien herzustellen, sich zu artikulieren, sich Gehör verschaffen zu können. Junge Menschen wollen ihr Dasein sichtbar dokumentieren. Wo ist dafür Raum? Der verzweifeltste Schritt, um Aufmerksamkeit zu erreichen, ist der, sich (vor allem bei Mädchen) und andere zu verletzen, ja, zu töten. Wut und Hass aufgrund von Ablehnung oder verweigerter Zuwendung werden mit Verhaltensmodellen, die massenmedial als normal und erfolgreich angeboten werden, umgesetzt. Das mündet, wenn dann noch die Waffen zugänglich sind, in eine Katastrophe. Dann stehen wir da mit großen Augen, die wir vorher geflissentlich vor allen Anzeichen verschlossen haben. Wo bleibt die Sensibilität für den Schutz der Jugend in unserer Gesellschaft? Nur weil junge Menschen heute manchmal wie Erwachsene agieren, heißt das nicht, dass sie dies nicht überfordert. Aber wen kümmert's?

Welche Vorschläge haben die Experten parat? Die Runde im "Club 2" nach dem Amoklauf war einig in der Bedeutung von Medienpädagogik in der Schule. Diese wird trotz aller gegenteiligen Behauptungen in der pädagogischen Praxis und in der Ausbildung der Lehrerschaft extrem vernachlässigt. Informations- und Kommunikationstechnologie und e-learning sind die eine Sache. Medienbildung ist etwas anderes und geht weit darüber hinaus. Wie aber sollen Lehrerinnen und Lehrer ohne Sensibilisierung und ohne entsprechende Unterstützungssysteme ihrer Aufgabe in Richtung Medienbildung gerecht werden? Ihnen allen, die nachhaltige, aber unspektakuläre Arbeit leisten, wird die Anerkennung verweigert, indem die Mittel und damit Personal gestrichen werden. Andere oder neue Finanzierungsmöglichkeiten werden ihnen verweigert. In Deutschland haben die Landesmedienanstalten, finanziert unter anderem durch einen Teil der Rundfunkgebühren, Medienpädagogik zu fördern - durch Forschung und Praxisprojekte. Hierzulande gehen derartige Forderungen ins Leere.

Wo ist die Ethik, wo bleiben die Mahner?

Apropos Medien: Wo bleibt die verantwortungsbewusste Programmgestaltung im Vorfeld, als Prävention oder ganz allgemein als Verantwortung einer Gesellschaft - etwa durch eine unterhaltsame, informative, im Sinn von ethischer Verantwortung wertvollen Serie für Kinder im Vorschulalter? Wo bleibt ein Angebot, das Kinder in ihrer Entwicklung mit ihren sozialen Themen und nicht nur in den naturwissenschaftlichen weiterbringt, sie anregt, fördert, ihnen Plattform für eigene Beiträge ist?

Im Zusammenhang mit dem Fall Josef F. appellieren Journalistenvertreter an die Kollegen, journalistische Ethik walten zu lassen. Wo sind die Mahner aus den Reihen der Pädagogen, wo die Lobbyisten für Kinder? In der Bildungsdiskussion fiel der Name Janusz Korczak. Seine Dimensionen des Bildes vom Erzieher sind klar: mit Kindern fühlen, sie begleiten statt bevormunden, die Realität nicht beschönigen, aber aus Fehlern lernen, Menschenrechte der Kinder achten, beobachten und reflektieren, fantasie- und humorvoll eine demokratische Lebenswelt schaffen. Korczaks Pädagogik basiert auf Achtung (wenn das Kind respektiert wird, kann es auch andere Menschen achten) und Liebe (sehend, ohne Erwartung, hoffend, illusionslos, durch Nähe, Zulassen der eigenen Kindlichkeit, mit Treue und Hingabe, Verstehen und Verzeihen, Konsequenzen zeigen). Das geht mir durch den Kopf, wenn ich - wieder einmal - den aktuellen Ruf nach Medienpädagogik im Zusammenhang mit einer Gewalttat - wodurch auch immer motiviert - in Medien vernehme. Wir hören und reden von Nachhaltigkeit in allen Förderprojekten. Die nachhaltigste Wirkung erziele ich eben im Bereich der Pädagogik - im positiven wie negativen Sinn.

* Der Autorin leitet die Medienpädagogische Beratungsstelle Baden

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