Die Alm, die Norm und die Sehnsucht

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Im "ALMfilm" kommen nicht Betreuer zu Wort, sondern ausschließlich betroffene Menschen. Dies zeichnet auch die Qualität des Filmes aus.

Hoch über den Tälern thronen die Höfe einsam und verlassen.

In den Höfen verbringen die Bauern mit ihren Kühen das Dasein.

Die Einsamkeit weicht auf den Berghöfen nicht von der Stelle.

Nur der Mond und die Wolken sind auf den Höfen manchmal zum Greifen nahe.

So beschreibt Georg Paulmichl, ein Dichter mit sogenannter Lernbehinderung die Idylle und die Last des Lebens in den Bergen. Dort oben, auf der Alm, gibt es ungewöhnliche Bauern, die die Norm und das Leben an sich in Frage stellen.

Der ALMfilm lädt auf eine Begegnung mit den etwas anderen Bergbauern ein. Die Weinlese ist mitten im Gang. "Komisch ist es schon", sagt ein junger Mann, "bergauf schleppen sich die mit Weintrauben vollgefüllten Körbe sehr schwer. Den Weinstock hinunter geht es leicht, noch dazu sind die Körbe leer." Eine scheinbare Quadratur des Kreises. Eine Weinlese ist harte Arbeit: Reben schneiden, maischen, pressen, Flaschen waschen. Egal bei welchem Wetter, die Arbeit muss getan werden. Das Leben auf der Alm ist scheinbar hart, aber der Film spiegelt die persönlichen Geschichten, Gedanken und Gefühle von Menschen in all ihrer Ehrlichkeit und Lebensrealität wider. Die Bergbauern der etwas anderen Art arbeiten, lieben und leben. Keine Selbstverständlichkeit, wie die Vergangenheit zeigt.

Grausame Vergangenheit

"Die Welt braucht keine behinderten Menschen. Aber da sind sie trotzdem", schreibt Georg Paulmichl in seinem Buch "Ins Leben gestemmt" (Haymon-Verlag, 1994). Das Leben von lernbehinderten Menschen in der Gegenwart kann gemütlich im Kinosessel betrachtet werden.

Die Vergangenheit wurde dieser Tage im Rahmen einer Euthanasie-Tagung auf Schloss Hartheim in Erinnerung gebracht. Im Dritten Reich wurde die Vernichtung "lebensunwerten Lebens" für geborene behinderte Kinder und ungeborene Kinder von erbkranken Eltern als Akt des "Gnadentodes" durchgeführt. In den Jahren 1940 bis 1941 war das oberösterreichische Schloss einer von sechs deutschen Euthanasie-Stützpunkten. Im Rahmen der Aktion T4 (herablassend benannt nach der Tiergartenstraße, Nr. 4) wurden in diesen beiden Jahren 70 000 behinderte und pflegebedürftige Menschen umgebracht. Der Wert behinderten Lebens wurde durch Essensverbrauch und Pflegeaufwand bemessen, kalkuliert und des Aufwandes der Vernichtung gegenübergestellt. In Hartheim gab es kein Pflegepersonal. Die behinderten Menschen wurden unter dem Vorwand der besseren Betreuung in das Schloss deportiert, entkleidet und in der Gaskammer "geduscht". Heute erinnert eine beeindruckende Ausstellung an die grauenvollen Tage, die nicht mehr auszulöschen sind. Barrierefrei kann man über eine Rampe in die ehemalige Gaskammer rollen und Gott sei Dank wieder hinaus. Zurück bleiben ein flaues Gefühl, Angst und Unbeholfenheit.

Für viele wirken die Menschen auf der Alm wahrscheinlich zunächst befremdend. Die Medien-Realität bietet jedoch einen Schutzraum. Man kann ungestört beobachten und bekommt Einblicke in die für viele so ungewohnte Welt behinderter Menschen. Aber wie soll man die Filmdarsteller nennen? Geistig behindert? Lernbehindert? Intellektuell behindert? In der Behindertenbewegung ist ein Streit über die politisch korrekte Bezeichnung ausgebrochen. Vertreter der People-First-Bewegung möchten sich als "Menschen mit Lernbehinderung" oder "Lernschwierigkeiten" bezeichnet sehen.

Hilflosigkeit wird sichtbar

Die Diskussion um die richtige Wortwahl "allein schon ist Ausdruck unserer Hilflosigkeit gegenüber diesen Menschen", sagte der Schriftsteller Felix Mitterer kürzlich bei der Präsentation des ersten österreichischen Literaturpreises für Menschen mit Lernbehinderung, "Ohrenschmaus". Behinderte Menschen sind heute nicht nur als Bauern, sondern auch in anderen ungewöhnlichen Berufsfeldern zu finden: Sie betreuen und unterhalten Menschen in Altersheimen, empfangen Gäste im Hotel oder grübeln als Schriftsteller an Sichtweisen über die Welt. Schriftsteller sitzen nicht immer im literarischen Elfenbeinturm. Manchmal schreiben sie im Schlafzimmer einer Wohngemeinschaft, in einer geschützten Arbeitsstätte oder im Gemeinschaftsraum eines Heimes. Manche schreiben ihre Texte alleine, andere diktieren sie, wie Georg Paulmichl, ihren Assistenten oder Betreuern. Dieser Tage wurde er mit dem Österreichischen Ehrenzeichen für Bildung und Wissenschaft ausgezeichnet. Dadurch brachte die Republik Österreich die größte Wertschätzung für Wissenschaftler und Künstler erstmals einem Menschen mit Lernbehinderung entgegen. Ein Signal der Normalisierung. Durch das Projekt "Ohrenschmaus" sollen neue, ähnliche Talente entdeckt werden.

Im ALMfilm kommen nicht Betreuer zu Wort, sondern ausschließlich betroffene Menschen. Dies zeichnet auch die Qualität des Filmes aus. Manchmal ist der Wunsch nach Normalität spür- und hörbar: "Ich will laufen können, Fußball spielen können, Auto fahren. Ich kann nichts anderes außer warten. Ich bin nicht der Typ, der mich mögen tut. Mich kann niemand mögen. Ich bin nicht der Typ zum Mögen. Es reicht, wenn ich die anderen mag. Ich komme und gehe irgendwann wieder, aber nicht freiwillig. Der Tod holt mich ab. So zum Weiterleben macht's keinen Spaß mehr." Solche Sätze geben Anlass, über den Sinn des Lebens nachzudenken, und stellen Werte in Frage.

"Der Tod holt mich ab"

An anderen Stellen geht es durchaus heiter zu, wenn etwa ein Bergbauer von seinen Problemen berichtet: "Ich tu mir schwer in der Nacht beim Heimgehen im Winter, dass ich den Weg find. Braucht nur eine Lampe ausgefallen sein - seh ich schon weniger." Die Sehnsucht nach Liebe und Beziehungen wird öfters deutlich. Eine faszinierende Filmsequenz zeigt Annäherungen und Ablehnungen: Er: "Kalt is!" Sie: "Tu ma kuscheln!" Er: "Nein." Sie küsst seine Hand. Er: "Hose runter!" Sie: "Hör auf! Hose runter ist leider verboten."

Zentrale Aussage des Filmes ist der Wunsch behinderter Menschen nach einem selbstbestimmten Leben. Charakteristisch dafür ist die Aussage einer jungen Frau: "Wollte Sylvester mit Freunden feiern. Ich bin erwachsen und will nicht immer bei meiner Familie hocken. Sie müssen akzeptieren, dass ich selbstständig bin."

Der ALMfilm ist ein sehenswerter Film, der anregt, selbst auf die Alm zu wandern, um ungewöhnlichen Menschen direkt zu begegnen.

Der Autor ist Abgeordneter zum Nationalrat und Sprecher des ÖVP-Parlamentsklubs für Menschen mit Behinderung, Medienpädagoge und Autor.

www.ohrenschmaus.net

ALMfilm

A 2006. Regie: Gundula Daxecker

Verleih: Stadtkino. 69 Min.

4. bis 24. Mai 2007

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