Die alte neue Mitte

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Der "Neue Mitte" ist die kürzeste Formel für das europaweit erfolgreiche Programm der Linken.

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Der "Neue Mitte" ist die kürzeste Formel für das europaweit erfolgreiche Programm der Linken.

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Nun ist Gerhard Schröder in der von ihm im Wahlkampf beschworenen "neuen Mitte" angekommen. "Ich will da rein", soll er schon vor Jahren mit den Fäusten an die Türen des Bonner Kanzleramts trommelnd geschrien haben. Der Weg dorthin konnte nur über die neue Mitte führen. Jetzt sitzt Schröder tatsächlich im Kanzleramt - und gewissermaßen auch mittendrin in seiner neuen Mitte.

Die hat er verstanden um sich zu scharen und jenem Mann abspenstig zu machen, der über mehr als eineinhalb Jahrzehnte wie selbstverständlich diese Mitte zu repräsentieren schien: Helmut Kohl.

Doch der stand, so suggerierte Schröder erfolgreich, nur noch für eine alte Mitte, die nun zur neuen wurde, indem sie sich um den Kanzlerkandidaten aus Niedersachsen versammelte.

Was aber hat es mit diesem Begriff an sich? Es dürfte sich bei der "neuen Mitte" um die kürzeste Formel für jenes Programm handeln, mit dem die (gemäßigte) Linke derzeit europaweit - nach Maßgabe der jeweiligen Führungspersönlichkeiten und der nationalen Gegebenheiten entsprechend modifiziert - Erfolg um Erfolg einfährt. Die Kombination von "Mitte" und "neu" bedeutet, kurz gesagt, das Beharren auf dem Status quo als Aufbruch zu verkaufen; dem Versprechen, es könne (fast) alles so bleiben wie es ist, den Anstrich von Dynamik zu verleihen; dem Besitzstanddenken und Pochen auf "wohlerworbenen Rechten" recht zu geben und dabei den Charme des Modernisierers spielen zu lassen. Denn die Mitte ist selbstverständlich konservativ im Sinne von beharrend, im Sinne des Festhaltens am Bestehenden. "Zu allen Zeiten hatten die herrschenden Schichten ein ureigenes Interesse daran, daß sich die Verhältnisse nicht ändern", schrieb ein Leitartikler der "Frankfurter Allgemeinen" im März dieses Jahres und zog daraus den Schluß, daß konservativ im eben genannten Sinne immer jener Teil der Gesellschaft sei, "der ihre Werte definiert und in ihren öffentlichen Institutionen dominiert". Früher seien dies, so die FAZ, ständische Minderheiten gewesen, doch "in der Demokratie ist es in aller Regel die Mehrheit".

Genau das ist es, und genau deswegen hatte auch Josef Joffe recht, als er nach dem Wahlsieg der französischen Sozialisten im Feuilleton der liberalen "Süddeutschen Zeitung" schrieb, daß die "Linke heute das Ancien regime repräsentiert". Nur hat sich das ancien regime gewissermaßen demokratisiert. Nicht mehr handelt es sich hierbei um eine schmale, durch Geburt geadelte und über die Maßen privilegierte Oberschicht, die zurecht den Zorn der Massen auf sich zog und von der Revolution schließlich hinweggefegt wurde; nein, das ancien regime ist heute die breite Mitte der westlichen Demokratien, die von den Segnungen des Wohlfahrtsstaates profitiert - vielfach auch über die Maßen und auf Kosten wirklich Bedürftiger sowie künftiger Generationen. Doch die Politik zettelt naturgemäß keine Revolution gegen dieses ancien regime an, sondern verspricht etwa, daß "die Pensionen nicht angetastet werden" (Vranitzky) oder daß "nicht alles anders", nur "manches besser" gemacht werden solle (Schröder).

Diese angepeilte Mitte ist natürlich nicht neu, es ist die alte Mitte, mit der - siehe oben - in der Regel Wahlen gewonnen werden. "Neu" ist daran allenfalls, daß sich in ihr Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft finden, daß diese Mitte also Trennlinien zwischen den "alten" Milieus aufbricht und überkommene Bindungen relativiert, wenn nicht obsolet macht. Doch auch das ist nicht wirklich neu, diese gesellschaftlichen Veränderungen lassen sich immerhin etwa seit den siebziger Jahren beobachten. "Neu" hat also vielmehr die Funktion eines doppelten Signals an die beschriebene Mitte. Denn zum einen will sich diese natürlich keineswegs als konservativ-beharrend verstehen. Zum anderen aber wird dem Wählerpotential damit bedeutet: nun kommt Bewegung in erstarrte Verhältnisse: Nach 16 Jahren ist es nicht sonderlich schwer, halbwegs plausibel von Reformstau und Stillstand zu sprechen.

Damit aber ist auch der Verlierer - Helmut Kohl und die Unionsparteien - angesprochen. Unzweifelhaft blieb - namentlich beim Umbau des Sozialstaates, bei der Steuerreform - vieles liegen, was sich nicht nur mit der Blockade des SPD-geführten Bundesrates erklären läßt.

Zehn Tage vor seiner Niederlage legte Helmut Kohl in einem großen FAZ-Interview noch einmal die Leitlinien und Grundlagen seines politischen Handelns dar: "In allen Fragen, die die Grundlagen unseres Zusammenlebens und die Lehren aus der Geschichte betreffen, bin ich ein Wertkonservativer. In der Frage des Zusammenhalts unserer Gesellschaft und der Solidarität mit den Schwächeren bin ich ein Christlich-Sozialer. In der Frage der Freiheitsrechte des Bürgers, gerade auch im Verhältnis Bürger und Staat, bin ich ein Liberaler." Man wird im einzelnen viele Punkte aufzählen können, an denen Kohl während seiner 16 Regierungsjahre nicht diesem seinem politischen Bekenntnis gerecht geworden ist - bei welchem Politiker wäre es denn auch anders. Daß Kohl in diesem Sinne seinem Land und Europa seinen Stempel aufgedrückt hat, ist unbestreitbar. Als Programm wären die eben zitierten Sätze wohl ungeschmälert zukunftstauglich. Darüber nachzudenken bleibt Kohls Erben jetzt Zeit, die genützt werden will.

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