"Die Andersheiten sein lassen“

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Menschen, die anders sind, haben Jeannette Yaman-Rehm schon immer interessiert. Deshalb arbeitet sie als Seelsorgerin in einem Psychiatrischen Spital. Und deshalb hat sie einen Muslim geheiratet. Über den Reiz des Fremden und die Grenzen der Anpassung.

Gerade heute war wieder eines dieser Gespräche. Ihr gegenüber saß ein schwer psychisch Kranker, einer, der Dinge sieht, die andere nicht sehen; Dinge denkt, die andere nicht denken; Dinge fühlt, bei denen andere niemals so tief steigen oder so hoch fliegen würden. Beim ersten Zusammentreffen ging es noch um Beziehungsfragen. Doch heute, nach einer guten halben Stunde, begab man sich gemeinsam in die Tiefe. "Er hat seine geistige Welt vor mir aufgemacht“, erzählt Jeannette Yaman-Rehm. "Das war wirklich hochinteressant.“ Gerade bei psychotischen Patienten komme man nicht selten in Berührung mit religiösen und spirituellen Bildern.

Seit September dieses Jahres leistet die 47-Jährige hier, im Wiener Otto-Wagner-Spital auf der Baumgartner Höhe, katholische Seelsorge für psychisch kranke Menschen: für Depressive und Psychotiker, für Neurotiker, Suchtpatienten und viele mehr, die in keine vorgefertigten Schubladen passen.

Was ist das überhaupt: Realität?

Bis heute empfinden Patientinnen und Patienten den Umstand, in einem psychiatrischen Krankenhaus zu landen, als Stigma, das ihren Selbstwert untergräbt. Was kann da Seelsorge leisten - zumal es vom Psychiater bis zur Bezugspflegekraft zahlreiche andere Gesprächsangebote gibt? "Ich bin selbst noch auf der Suche“, gesteht die zierliche Frau nachdenklich. "Vielleicht wage ich es, an den bestehenden medizinischen und psychologischen Dogmen zu kratzen, die Kategorisierungen aufzumachen und zu fragen: Was hat diesen Menschen dahin gebracht, sich und seine Welt so zu verstehen? Und was ist das überhaupt: Realität?“

Eine schwierige Frage, die Jeannette Yaman-Rehm seit jeher begleitet - ebenso wie das Interesse an Menschen, die irgendwie anders sind. Vielleicht hat das mit ihrem eigenen Vater zu tun, einem "Sonderling“, wie sie selber sagt, einem Mann, der als einer der wenigen in ihrer Heimatgemeinde Egg-Großdorf im Bregenzerwald nicht in die Kirche ging, für seine Kinder kaum greifbar war - und für dessen Würde sie dennoch entschlossen kämpfte. Die starke Mutter dagegen habe sie religiös geprägt und in ihr den Wunsch zum Theologiestudium keimen lassen. Doch die Arbeit später als Pastoralassistentin in einer Wiener Pfarre habe sie nicht glücklich gemacht: Zu sehr gingen Beruf und Privatleben ineinander über, zu groß war die Sehnsucht, sich in ihrer Arbeit voll und ganz auf den einzelnen Menschen einzulassen. Also startete die katholische Theologin eine weitere Ausbildung zur Krankenhausseelsorgerin, arbeitete nebenbei am Kaiser-Franz-Josef-Spital und kam schließlich mit 35 Jahren ans große Wiener AKH.

Welche Schicksale, welche Menschen hat sie hier in zwölf Jahren erlebt! Auf der Aids-Abteilung eine junge, brasilianische Frau, die nicht nur körperlich am Boden war, sondern auch rechtlich völlig in der Luft hing und ihre Selbstachtung aufgegeben hatte; auf der Notfallabteilung einen Mann Anfang 20, der nach einer Überdosis einer Droge im Sterben lag, während Lebensgefährtin und Mutter darüber stritten, ob es ein Unfall oder Absicht war; oder auf der Kinderklinik eine Mutter eines dreijährigen Buben mit Gehirntumor, die ihr ganz besonders nahe ging, weil ihr eigener Sohn damals kaum älter war. "Bei Müttern geht es meistens nicht so sehr um die Frage nach dem Warum“, weiß die Seelsorgerin, "da geht es vor allem darum, wie eine Löwin für das Kind zu kämpfen.“ Um sich besser abgrenzen zu können, ging sie damals - wie so oft - in die Krankenhaus-Kapelle, zündete eine Kerze an und übergab damit das Erlebte.

Ehe mit Kompromissen

Hier im AKH war es auch, wo 2008 ihre große Liebe besiegelt wurde, die alle Konventionen sprengte. Acht Jahre zuvor hatte Jeannette Rehm ihren aus der Türkei stammenden, muslimischen Nachbarn Murat Yaman kennen und lieben gelernt. Vier Jahre später wurde Sohn Ismael geboren, weitere vier Jahre später heirateten die beiden in einem interreligiösen Gottesdienst: der islamische Trauungsakt (Nikah) fand in der Moschee statt, die katholische Ehesegnung in der evangelischen Kapelle. "Ich habe zuvor jahrelang gekämpft und gesagt: Das ist total unvernünftig, wegen der unterschiedlichen Kultur und Religion und überhaupt“, erinnert sich Yaman-Rehm. "Aber wir konnten uns einfach nicht erwehren.“

Bis heute erfordert diese Ehe zahlreiche Kompromisse: Sohn Ismael besucht etwa den islamischen Religionsunterricht. Dagegen hat der Geschäftsmann Murat Yaman lernen müssen, mit der Tatsache umzugehen, dass seine Frau kein Kopftuch trägt. Für ihre Liebe zu konvertieren, war für die katholische Theologin jedenfalls nie eine Option: "Es gibt Grenzen der Anpassung, weil man sonst seine Identität verliert“, sagt die katholische Seelsorgerin von der Baumgartner Höhe. "Man muss Andersheiten auch sein lassen können. Insofern könnte unsere Ehe vielleicht sogar modellhaft sein.“

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