Die Ausleseschule ist unglaubwürdig

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Gesamtschulsysteme erreichen gute Schülerleistungen - ohne soziale Benachteiligung.

In den vergangenen 50 Jahren haben sich politisch und kulturell so unterschiedliche Länder wie Schweden und Norwegen, Italien und Frankreich dazu entschlossen, die Selektion am Ende der Grundschule aufzugeben und alle Kinder bis zum Ende der Schulpflicht in Gesamtschulen zu unterrichten. Die Gründe für die Abkehr vom traditionellen Ausleseschulsystem waren überall die gleichen:

* Die Auslese im Alter von zehn oder elf Jahren ist unverlässlich; für die große Mehrheit der Kinder lässt sich vor der Pubertät keine zufriedenstellende Prognose des zukünftigen Schulerfolgs abgeben.

* Je früher Selektion erfolgt, desto stärker benachteiligt sie Unterschichtkinder.

* Es gibt auf der Sekundarstufe I keine unterschiedlichen "Bildungsideale" und Lehrplanziele für unterschiedliche Schultypen.

* Selektiven Schulsystemen gelingt es nur unzureichend, alle "Begabungsreserven" zu mobilisieren.

Gelobtes (Finn-)Land

Manchen österreichischen Bildungspolitikern ist die Tatsache unangenehm, dass Finnland, der "Sieger" beim internationalen Schülerleistungsvergleich PISA, ein "klassisches" skandinavisches Gesamtschulsystem hat, und der Hinweis, dass die meisten anderen Länder der PISA-Spitzengruppe (Kanada, Australien, Japan, Südkorea, Neuseeland) ebenfalls Gesamtschulsysteme haben, löst in der Regel eine verärgerte Suche nach "nicht-gesamtschulischen" Faktoren (Unterrichtsmethoden, Lehrerbildung etc.) aus, die für das gute Abschneiden bei PISA verantwortlich sind. Selbstverständlich ist der schulische Erfolg von Schülern ein "multikausales Phänomen", also das Ergebnis des Zusammenspiels vieler Faktoren, aber zumindest eines kann man festhalten: Gesamtschulsysteme erreichen sehr wohl gute Schülerleistungen, also keine "Nivellierung nach unten", und zwar ohne die krasse soziale Segregation wie etwa in Deutschland.

Das erste Leitmotiv der skandinavischen Gesamtschulen ist "demokratische Integration", das zweite "individuelle Differenzierung"; wer ihnen einen schulischen "Einheitsbrei" unterstellt, hat offensichtlich keine Ahnung. Die Lehrer sind für den Lernfortschritt aller ihrer - unterschiedlich begabten - Schüler verantwortlich, denn es gibt keine "Hauptschulen", an die man schwache oder lästige Schüler abschieben könnte. Die Förderung von lernschwachen Kindern erfolgt in der Regel in heterogenen Klassen durch die Beiziehung von Lehrerinnen mit einer Förder-Zusatzausbildung. Das Lernklima finnischer Schulen wird durch mehrere Umstände begünstigt: ein erhebliches Maß an Autonomie bei der Umsetzung des nationalen Lehrplans, eine kreative Schularchitektur, die flexible Gruppierungsformen zulässt, und der kluge Einsatz von Computern. Das gute Abschneiden Finnlands bei PISA ist das Ergebnis einer fairen Bildungspolitik und einer unverkrampften Schulpraxis.

In Österreich hält man - entgegen den eindeutigen Befunden der europäischen Bildungsforschung - an der Fiktion fest, man könne am Ende der Volksschule die "hauptschulische Spreu" vom "gymnasialen Weizen" trennen. De facto findet eine massive soziale Selbstauslese durch die Eltern statt. Es gibt keine glaubwürdige pädagogische Begründung dafür, dass in Wien und den anderen Landeshauptstädten etwa 60 Prozent der Zehnjährigen in eine AHS-Unterstufe eintreten, im österreichischen Durchschnitt jedoch bloß 30 Prozent.

Homogene Elite?

Anscheinend findet es in Österreich niemand absurd, dass so getan wird, als wären die 60 Prozent der städtischen AHS-Unterstufenschüler eine "homogene Elite", die auf die Matura vorbereitet wird, während der "heterogene Rest" der 40 Prozent Hauptschüler in den Hauptfächern drei Leistungsgruppen braucht. Wie es AHS-Lehrern gelingen soll, ohne differenzierende Lernmaterialien und ohne Binnendifferenzierung Klassen zu unterrichten, die zwei Drittel des Begabungsspektrums umfassen, ist eines der großen Rätsel der österreichischen Schulwirklichkeit. Der Preis für die Unglaubwürdigkeit der Zweigliedrigkeit der Sekundarstufe I ist allerdings offensichtlich: ein hohes Maß an Lehrerfrust und subjektivem Schülerleid.

Der Autor ist Ordinarius für Erziehungswissenschaft an der Universität Wien.

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