"Die Falken in der Türkei haben verloren"

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1970 war die Menschenrechtssituation in Spanien schlimmer als in der Türkei, sagt Cem Özdemir, der deutsche EU-Abgeordnete türkischer Abstammung. Hätte die Türkei in den vergangenen Jahrzehnten soviel Reformwillen gezeigt wie in den letzten paar Jahren, wäre sie schon längst EU-Mitglied.

Die Furche: Herr Özdemir, in den Tagen vor der Entscheidung der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen wurde von beiden Seiten nicht zimperlich miteinander umgegangen - der deutsche Altkanzler Helmut Schmidt hat generell den Zuzug von Gastarbeitern in den siebziger Jahren bedauert - wurden da neue Gräben aufgerissen?

Cem Özdemir: Das hoffe ich nicht, aber es wird versucht, einen Zusammenhang zwischen der EU-Türkei-Annäherung und der Frage des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religionen in Europa zu konstruieren. Da müssen wir aufpassen, dass wir uns nicht entlang der Linien von Konfessionen und Religionen sortieren, sondern entlang der Linie von Werten. Diese Werte kann teilen, wer Katholik ist, wer Protestant ist, wer sunnitischer Muslim oder Alewit ist, wer jüdisch ist, wer Atheist ist oder einer anderen Religion angehört. Manche der Diskussionen gingen leider in die Richtung, dass man Religionen verantwortlich gemacht hat für Dinge, die einzelne zu verantworten haben.

Die Furche: Sie haben für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gestimmt - ist die Türkei europareif?

Özdemir: Leider hat die Türkei spät mit Reformen angefangen. Es hat lange gedauert, wertvolle Zeit ist verloren gegangen. Die türkische Politik sagt, wir warten schon seit 40 Jahren auf EU-Beitrittsverhandlungen - das mag stimmen, aber man muss dazu sagen: Seit ungefähr drei Jahren strengt ihr euch erst an. Hättet ihr vor 40 Jahren angefangen, dann wärt ihr schon längst EU-Mitglied. Ein Beispiel: 1970 war die Menschenrechtssituation in Spanien schlimmer als in der Türkei. Damals war die Türkei in einem besseren Zustand als Spanien, heute kann man das nicht sagen. Das heißt, man muss auch die türkischen Politiker aller Couleur dafür verantwortlich machen, wo das Land heute steht.

Die Furche: Was sollen die nächsten Reformschritte sein?

Özdemir: Von jetzt an muss klar sein, dass die Türkei in Siebenmeilenstiefeln mit den Reformen weitermacht. In der Kurdenfrage hat man angefangen, das Tabu ist gefallen, jetzt muss die Rückkehr von Kurden in ihre Dörfer ermöglicht werden. Bei den Frauenrechten hat sich in den Gesetzen viel getan, von der Vergewaltigung in der Ehe bis hin zur Schulpflicht für Mädchen, aber es gibt noch viel zu tun: Ungefähr eine halbe Million Frauen geht nicht in die Schule. Nach wie vor ist Gewalt in der Ehe keine Ausnahme. Bei der Religionsfreiheit muss sich die Türkei an die Phasen der Toleranz erinnern, die es im osmanischen Reich gab. In dem Kontext wünsche ich mir, dass sich Patriarch Bartholomaios offiziell Ökumenischer Patriarch nennen darf, dass er die orthodoxe Priesterschule Chalki wieder eröffnen kann; ich wünsche mir, dass aramäisch wieder an Schulen unterrichtet wird, dass die Cem-Häuser der Alewiten als Glaubenszentren anerkannt werden und vieles mehr.

Die Furche: Sie sagen selbst, viele Veränderungen haben erst auf dem Papier, nicht aber in der Realität stattgefunden - war dann der Beginn von Beitrittsverhandlungen doch zu früh?

Özdemir: Was diese Skepsis angeht: Die hätte man auch gegen Spanien, Portugal, Griechenland, gegenüber den osteuropäischen Ländern vorbringen können. Aber wenn immer die Skepsis in Europa regiert hätte, wäre die Mauer nie gefallen, wären Spanien, Portugal, Griechenland nie Mitglied der EU geworden. Die Skepsis in Ehren - aber bitte nicht immer nur die Sorgen betonen und die großen Chancen vergessen.

Die Furche: Welche Chancen?

Özdemir: Es gibt leider nicht so viele muslimische Länder, die funktionierende Demokratien sind. Umso wichtiger ist, dass es am Beispiel der Türkei funktioniert - weil man damit auch eine Botschaft aussendet, dass Islam und Demokratie zusammengehen können. Lange gab es die These: Demokratie und Katholizismus verträgt sich nicht. Kein Mensch, der bei Sinnen ist, würde heute noch sagen, dass Katholizismus einen Widerspruch zur Demokratie darstellt. Lange wurde gleiches über den Konfuzianismus gesagt - aber Taiwan ist eine Demokratie. Heute sagt man Vergleichbares über den Islam - aber die Türkei ist ein Beispiel für das Gegenteil.

Die Furche: Die Türkei schaltet vermehrt Inserate in großen Zeitungen, um sich als europäisch zu präsentieren - eine sinnvolle Charmeoffensive?

Özdemir: Gegen Werbung spricht nichts, aber die beste Werbung ist gute Politik. Eine bessere Werbung gibt es nicht als die Kurdenpolitikerin Leyla Zana endlich freizulassen, nach zehn Jahren, die man ihr geklaut hat - das ist viel mehr wert als hundert Anzeigen. Ich würde an die Türkei appellieren, die Energie in die Reformen und ihre Umsetzung zu stecken - das allein spricht für sich.

Die Furche: Wie können die EU-skeptischen Türken für den Annäherungsprozess gewonnen werden?

Özdemir: Da muss man unterscheiden: Denjenigen, die um die Kultur und Identität fürchten, kann man sagen: Die Franzosen sind Franzosen geblieben, die Österreicher bleiben Österreicher - EU bedeutet ja nicht, dass wir alles an der Garderobe abgeben und ein Einheitsbrei entsteht. Wir behalten unsere Eigentümlichkeiten, aber da, wo wir es für sinnvoll erachten, stimmen wir unsere Politik aufeinander ab. Die Türken bleiben auch in der EU Türken.

Aber es gibt auch diejenigen in der Türkei, die ihre Pfründe schützen wollen. Und denen sagen wir, dass sie eine verlorene Schlacht kämpfen. Nach diesem Signal der EU ist völlig klar, dass die Falken, die Reformgegner, diejenigen, die daran glauben, dass alle Türken sunnitische Muslime sein müssen, diejenigen, die wollen, dass alle in der Türkei türkisch sprechen - alle diese haben keine Mehrheit und keine Zukunft in Europa.

Die Furche: Welches Signal senden die Beitrittsverhandlungen an die Türken in der Europäischen Union?

Özdemir: Wir gewinnen die Türkei als einen Partner in der Integrationsfrage. Denken Sie an die letzte Rede von Erdogan in Köln, wo er vor Vertretern türkischer Vereine, die zum Teil nach seiner Rede enttäuscht waren, gesagt hat: Lernt die Sprache des Landes, in dem ihr lebt, lasst euch einbürgern und investiert euer Geld anstatt in der Türkei in die die Schulausbildung eurer Kinder. Das sind genau die Botschaften, die wir brauchen, die Integration erleichtern statt erschweren.

Das Gespräch führte Wolfgang Machreich.

Türkische Befürchtungen: Gesetzesänderungen für Christen oder Alewiten könnten von islamistischen Gruppen ausgenutzt werden.

von christoph fleischmann

Der kleine alte Herr mit dem langen weißen Bart scheint hinter seinem mächtigen Schreibtisch zu versinken. Er ist der Ökumenische Patriarch von Istanbul, Ehrenoberhaupt von 350 Millionen orthodoxer Christen in aller Welt, Bartholomaios I. Sein Einfluss auf die großen orthodoxen Nationalkirchen ist aber sehr beschränkt, und in der Türkei ist seine Gemeinde auf rund 2.000 Christen geschrumpft. Rechts von seinem Schreibtisch hängt das Porträt von Mustafa Kemal Atatürk, dem Staatsgründer der Türkei. Sein Staat macht dem Patriarchen gerade ernste Sorgen.

"Die Lage hat sich vom Schlechten zum Schlechteren gewendet", sagt er. Kürzlich unterlag der Patriarch vor Gericht, weil er ein vom Staat beschlagnahmtes orthodoxes Kinderheim zurückerhalten wollte. Ein kirchliches Krankenhaus soll auf einmal rückwirkend Steuern bezahlen, und sein wichtigstes Projekt kommt nicht voran: Der Patriarch möchte das alte orthodoxe Seminar Chalki auf der Insel Heybeli bei Istanbul wieder eröffnen, damit er Priester ausbilden lassen kann. Grund für diese und anderer Beschwerden ist eine türkische Gesetzgebung, die die Kirchen nicht als eigenständige Rechtspersönlichkeiten anerkennt; deswegen ist es für sie schwer, Eigentum zu erwerben und dauerhaft zu besitzen. Auch Holger Nollmann, Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde in Istanbul kennt solche Probleme. Der tiefere Grund für die unsichere Rechtslage der Christen läge in der sehr restriktiven Gesetzgebung gegenüber jeder Religion, erklärt Nollmann.

Um den türkischen Laizismus zu verstehen, hilft ein Besuch beim Präsidium für religiöse Angelegenheiten, Diyanet genannt. Das Religionspräsidium organisiert nicht nur den Islam in der Türkei, es kontrolliert ihn auch. Ali Dere ist der Chef der Auslandsabteilung des Diyanet; er erklärt, was ihm wichtig ist: "Wir erlauben keine Politik in der Moschee." Dere, der in Deutschland promovierte, gibt offen zu, dass das Diyanet nicht alle Moslems repräsentiert, sondern einen türkischen Einheitsislam fördert. Die Alewiten, immerhin rund 20 Prozent der Bevölkerung, haben keine eigene Vertretung innerhalb seiner Behörde.

Keine Politik in der Moschee

"Es gibt Religionsfreiheit auf der unteren Ebene", erklärt Dere. Das heißt, jeder dürfe Gottesdienst feiern, wie er wolle, aber es dürfe sich nicht jeder organisieren, wie er wolle. Dere sieht die Probleme, er ist ein Mann der vorsichtigen Öffnung. Aber: "Der neue Geist braucht Zeit." Wenn es das Diyanet nicht gäbe, warnt er, dann bekämen sofort extremistische Gruppen Oberwasser. "Wir sehen im Ausland, was passieren würde." Damit spielt Dere auf türkisch-islamistische Gruppen wie Milli Görüs an, die in der Türkei verboten sind, und sich deswegen im Ausland organisieren.

"Darum sagen bis heute Politiker: Wir können die Gesetze für diese Handvoll Christen nicht verändern", erklärt Pfarrer Nollmann. Wenn man die Gesetze für die Minderheiten-Religionen ändere, hätten auch islamistische Gruppen die Möglichkeit, sich zu formieren. Eine Position, für die Nollmann Verständnis hat: "Wenn die orthodoxe Priesterschule Chalki als eigenständige Hochschule wiedereröffnet wird, dann würden sich sofort 40 islamische Hochschulen unterschiedlicher Bewegungen gründen."

Trotzdem gibt es den "neuen Geist", von dem Ali Dere spricht. Auch Bartholomaios I. anerkennt den Reformwillen der Regierung, genauso wie die Vertreter der anderen Kirchen. Ein neues Stiftungsrecht, das schon als Entwurf existiert, könnte etliche rechtliche Probleme der Kirchen lösen. Schon jetzt sind Kircheneinrichtungen als Stiftungen organisiert. Die Kirchen wollen den Reformprozess nutzen und unterstützen deswegen einen EU-Beitritt der Türkei: "Wir lieben unser Land und wollen, dass es ein europäisches wird", sagt der Patriarch.

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