Die Fliehkräfte der Hochgeschwindigkeit

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Japan hat sich trotz seines Traditionalismus einem unerschütterlichen Fortschrittsglauben verschrieben. Doch nicht jeder kann mit dem Tempo mithalten, vor allem Jugendliche schotten sich ab. Nun soll ein Beschäftigungsprogramm Abhilfe schaffen.

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Japan hat sich trotz seines Traditionalismus einem unerschütterlichen Fortschrittsglauben verschrieben. Doch nicht jeder kann mit dem Tempo mithalten, vor allem Jugendliche schotten sich ab. Nun soll ein Beschäftigungsprogramm Abhilfe schaffen.

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Die Sonne senkt sich langsam hinter den Hügeln der Osaka Bay, wo die Kreuzfahrtschiffe und Luxusyachten vor der imposanten Kulisse des Kobe Tower einlaufen. An der Sannomiya Station beginnt allmählich die Rushhour, über den Shopping-Malls leuchten bunte Reklametafeln mit Manga-Bildern auf. Kesse, gut gekleidete junge Frauen mit kurzen Röcken und Mundschutz überqueren den Zebrastreifen, als wäre es ein Laufsteg. Kobe gilt als Modehauptstadt Japans, in Boutiquen werden extravagante Kleider und Accessoires feilgeboten. Das Modelabel "Suit Company" wirbt in einem Schaufenster für einen Damen-Hosenanzug für umgerechnet 1900 Euro.

Ein Luxus, den sich die urbane Lifestyle-Elite gerne leistet. Bei aller Extravaganz hat sich die Stadt aber auch eine gewisse Bodenständigkeit bewahrt. Nach dem verheerenden Erdbeben wurden manche mehrstöckige Gebäude nicht einfach abgerissen, sondern lediglich die obersten Stockwerke abmontiert. Die Statik hielt dem Beben stand, obwohl der Boden einem Pudding ähnelt. Unter Japan treffen vier tektonische Platten zusammen, die sich in ruckartigen Beben entladen. Es mutet wie eine Hybris an, die kühnsten Bauwerke auf diesem Teil der Erde zu errichten, wo die stärksten seismischen Aktivitäten auftreten und im Sommer zudem noch Taifune wirbeln.

Im Zug-Projektil

Von Shin Kobe nach Tokio verkehrt der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen, Japans Wunderwerk der Technik. Wie ein Geschoß -auf Englisch trägt der Shinkansen den Spitznamen "bullet train" - rast die aerodynamische, schlanke Zugkomposition mit Spitzengeschwindigkeiten von 300 Kilometer pro Stunde durch die Hochhausschluchten. Der Schnellzug zeichnet sich vor allem durch seine Sauberkeit und Pünktlichkeit aus. Pro Tag handelt sich der Shinkansen lediglich 36 Sekunden Verspätung ein, alles ist eng getaktet. Eine Schaffnerin mit strengem Blick und Schiebermütze winkt den Zug hinter einem Absperrgitter heran. Für die Passagiere bleibt nur eine halbe Minute Zeit, ein-und auszusteigen. Japaner sind hochdiszipliniert, es gibt kein Gedränge und Geschiebe, jeder setzt sich auf seinen zugewiesenen Platz. Man sitzt wie in einer Flugkabine in zwei Dreierreihen, die Fenster sehen aus wie Flugzeugfenster.

Der Chefingenieur der japanischen Bahn, Hideo Shima, wollte das Design des Zuges so gestalten, dass man sich wie in einem Flugzeug fühle. Fast geräuschlos beschleunigt der Bullet Train auf 200 Stundenkilometer. Japan ist eine Hochgeschwindigkeitsgesellschaft, die sich trotz ihres Traditionalismus einem unerschütterlichen Fortschrittsglauben und Turbokapitalismus verschrieben hat. Doch nicht jeder kann mit diesem Tempo mithalten.

In Japan gibt es nur eine halbe Million Hikikomori, junge Menschen, die sich in ihrem Zuhause von der Außenwelt abschotten. Die Betroffenen leiden unter Panikattacken und meiden soziale Kontakte. Es sind Menschen, die durchs Raster fielen, die den Ansprüchen der Familie und Gesellschaft nicht genügen. Fortschrittsverlierer würde man es hierzulande vielleicht nennen. Es sind vor allem junge Männer, die sich in ihren eigenen vier Wänden verbarrikadieren und vor dem Fernseher oder der Spielkonsole in eine Parallelwelt flüchten. Das Phänomen ist schon seit den 1980er-Jahren bekannt, wurde aber nie genauer medizinisch erfasst und von der Politik verharmlost. Soziologen führen das Phänomen auf die Abenomics zurück, jenem von Premierminister Shinzo Abe begründeten wirtschaftspolitischen Dreiklang aus lockerer Geldpolitik, flexibler Fiskalpolitik und Deregulierung.

Aggressive Geldpolitik

Doch die aggressive Geldpolitik konnte das Wirtschaftswachstum nicht ankurbeln. Experten sagen für nächstes Jahr ein Wachstum von lediglich einem Prozent voraus. Die geringen Wachstumsaussichten verschärfen den Druck auf dem Arbeitsmarkt, vor allem junge Absolventen haben Schwierigkeiten, einen geeigneten Job zu finden -und das, obwohl die Arbeitslosenquote bei drei Prozent liegt. Aus Angst, die Erwartungshaltung der Gesellschaft nicht zu erfüllen, schotten sich junge Menschen ab.

Der Psychologe Kazuhiko Saito sagt, die jungen Menschen seien von sozialen Abstiegsängsten paralysiert. Eine verlorene Generation. Die Regierung will nun auf dieses Problem reagieren und ein millionenschweres Hilfsprogramm auflegen, um die Hikikomori wieder in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

In der alten Hauptstadt Kyoto, dem übernächsten Halt des Shinkansen, sind an diesem Abend Hunderte junger Menschen auf den buddhistischen Tempel Kiyomizu-dera geströmt, der auf einem Hügel thront und zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Die Tempelanlage leuchtet in kräftigem Rot, auf der Terrasse der Holzkonstruktion liegt einem ganz Kyoto zu Füßen. Junge Paare marschieren händchenhaltend über die steilen Treppen, giggelnde Mädchen recken ihre Selfie-Sticks in die Höhe, Geishas mischen sich unters Volk. Der Ausdruck "von der Terrasse des Kiyomizu springen" ist das japanische Äquivalent zur deutschen Redewendung "den Absprung wagen". Von hier aus können die jungen Menschen ermessen, wie es sich anfühlt, sich in die Fährnisse der japanischen Hochleistungsgesellschaft zu stürzen.

Über ein paar steile Steintreppen geht es vorbei an duftenden Garküchen und Porzellangeschäften in die Einkaufsmeile Matsubara-dori. Kyoto wurde 794 nach chinesischem Vorbild als Planstadt auf dem Reißbrett entworfen. Die urbane Struktur ist bis heute sichtbar: Die Straßen mit ihren pittoresken Holzhäusern sind wie ein Schachbrett angeordnet. Die Straßennamen datieren noch aus der Heian-Zeit (794-1185), die Adresse ergibt sich aus der Kreuzung zweier Straßen. Weil es schwierig ist, sich diese Straßennamen einzuprägen, wurde vor hunderten Jahren ein Lied komponiert, mit dem das Straßennetz besungen wird. Auf diese Tradition ist Japan stolz, doch zuweilen wirkt die Konventionalität, das Überförmliche, das sich etwa in dem reflexhaften, ritualisierten Verbeugen ausdrückt, lähmend, wie ein bleischweres Korsett, das die Entfaltung der Persönlichkeit hemmt.

Berüchtigte Arbeitskultur

Japan ist berüchtigt für seine beinharte Arbeitskultur. Der Arbeitsplatz genießt noch immer Priorität vor der Familie. 22 Prozent der Japaner arbeiten mehr als 49 Stunden in der Woche, 30-40 Prozent der männlichen Berufstätigen im Alter zwischen 20 und 50 Jahren haben laut einer jüngsten Erhebung des Gesundheitsministeriums Schlafprobleme. Viele Männer schuften sich aus falsch verstandenem Ehrgeiz zu Tode. Karoshi, Erschöpfungstod durch Überarbeitung, gilt als offizielle Todesursache. Doch ohne den Bienenfleiß der Werktätigen hätte es Japan wohl nicht zur drittgrößten Volkswirtschaft gebracht, deren Automobil-und Elektronikindustrie (Toyota, Mitsubishi, Honda, Panasonic, Sharp) Exportschlager produziert.

Am nächsten Morgen marschieren um sieben Uhr die ersten Werktätigen in die Firmenzentrale des Spielherstellers Nintendo, der in Kyoto seinen Hauptsitz hat. In dem quaderförmigen Bau werden Konsolen und Videospiele wie Mario Kart oder zuletzt Pokémon Go entwickelt. Im Oktober besuchte Apple-Chef Tim Cook die Nintendo-Zentrale und twitterte ein Foto, wie er zur Freude des Entwicklers Shigeru Miyamoto eine Runde Super Mario spielte. Ob Manga, Sushi oder Karaoke - Japans Kultur strahlt auf die ganze Welt aus.

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