Die gesunde Dosis Dreck

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Der Mensch ist aus Sicht der Mikrobiologen ein von Organismen besiedeltes Ökosystem. Bakterien können uns sowohl nützen als auch schaden.

Eine unvorstellbare Anzahl von Bakterien tummelt sich allein auf unserer Haut: Etwa drei Millionen Bakterien bevölkern jeden Quadratzentimeter der Körperoberfläche. Je nach Region sind es mal mehr, mal weniger. Diese Mikroorganismen fungieren quasi als Wachposten: Sie schützen uns vor Infektionen mit gefährlichen Keimen oder verhindern, dass sich diese vermehren. Auch für die Verdauung spielen Bakterien eine wichtige Rolle.

"Mikroorganismen sind überall: Im Boden, im Wasser, in der Luft, in der Nahrung. Wir sind daran angepasst und gewohnt, diese Organismen einzuatmen oder mit der Nahrung aufzunehmen“, erklärt Mikrobiologe Gernot Zarfel vom Institut für Hygiene, Mikrobiologie und Umweltmedizin an der medizinischen Universität Graz. "In der privaten Umgebung verteilen wir nur unsere eigenen Keime. An öffentlichen Orten aber tummeln sich viele unterschiedliche Keime, auch solche von kranken Menschen“, weiß Zarfel.

Der Allgemeinmediziner Günther Loewit warnt in seinem Buch "Wieviel Medizin überlebt der Mensch?“ vor neuen, teils sogar tödlichen Keimen, welche erst die moderne Medizin produziert und die es früher gar nicht gegeben hat.

Medizin züchtet Multiresistenzen

Ein Beispiel dafür sind Infektionserkrankungen, die sich Patienten erst im Spital zuziehen: Befällt etwa der Keim MRSA immungeschwächte oder frisch operierte Patienten, drohen ernsthafte Komplikationen bis hin zum Tod. "Lange Zeit ließen sich diese Bakterien durch Antibiotika gut behandeln. Doch durch die übertriebene Gabe von Antibiotika erweist sich das Bakterium als resistent“, berichtet Loewit. Seit einigen Jahren gelingt es Chemikern und Pharmazeuten nicht mehr, neue und noch potentere Antibiotika zu synthetisieren.

Immer wieder wird Kritik laut, dass Antibiotika von Ärzten nicht nur allzu leichtfertig verschrieben werden, sondern oft auch von Patienten in unzureichender Dosierung und für eine zu kurze Dauer eingenommen werden. "Jeder dieser drei Kardinalsfehler beim Einsatz von Antibiotika ermöglicht den verschiedenen Bakterien die rechtzeitige Anpassung an den jeweiligen Feind. Wenn nicht alle Bakterien einer Spezies ausgelöscht werden, wird die nächste Generation dieses Bakterienstammes auf das entsprechende Antibiotikum resistent sein“, erklärt Loewit.

In Deutschland soll der multiresistente Keim MRSA in jedem der rund 2000 Spitäler existieren. Eine österreichweite Studie des Kaiser-Franz-Josef-Spitals in Wien spricht von über 7100 Erkrankungen jährlich durch das Darmbakterium "Clostridium difficile“. Im Jahr 2011 kam es dadurch zu 1279 Todesfällen. "Im Spital herrscht oft zuwenig Hygiene. In den letzten Jahren wurde in Österreich aber einiges getan, um das Bewusstsein zu schärfen, etwa für mehr Händehygiene“, betont Zarfel. Österreich liegt laut ECDC-Bericht in punkto Krankenhaushygiene im EU-Vergleich im Mittelfeld.

Übertriebene Waschkultur

Multiresistente Keime existieren aber nicht nur im Spital: "Solche Keime können teils auch außerhalb der klinischen Umgebung überleben“, erklärt Zarfel. Kranke, Geschwächte, Kinder und Alte sind besonders gefährdet. "Prinzipiell kann es auch Gesunde treffen: Ein Unfall oder eine Schnittwunde können bereits ausreichen“, weiß der Mikrobiologe.

Eine übertriebene Waschkultur außerhalb des Krankenhauses schade dem natürlichen Säureschutzmantel der Haut aber, meint Mediziner Loewit: "Auch die Haut ist ein immunologisches Organ, dessen Abwehrkraft sinken kann. Täglich mit Seife zu duschen ist sicher zu viel. Zwei Mal pro Woche Seife reicht völlig aus.“

Die Ursachen für die Entstehung resistenter Keime liegen nicht nur im irrationalen Einsatz von Antibiotika in der Humanmedizin, sondern auch in der Verwendung von "Humanantibiotika“ in der Nutztierhaltung. In Österreich werden pro Jahr durchschnittlich 45 Tonnen Antibiotika in der Humanmedizin und weitere 60 Tonnen in der Veterinärmedizin verwendet. Denn durch den systematischen Einsatz von Antibiotika in der Massentierhaltung, etwa in der Schweinezucht, lässt sich die Menge des benötigten Futters deutlich reduzieren. Vereinfacht gesagt: Gleicher Gewinn pro Tier bei verringerten Futtermittelkosten.

Ein schädlicher Nebeneffekt ist aber, dass das Tierfleisch bei der Schlachtung mit Antibiotika durchtränkt ist. Jeder Mensch, der solch ein Fleisch isst, nimmt unwissentlich eine kleine Antibiotika-Dosis zu sich. "Diese schadet nicht nur dem Köper, sondern begünstigt wiederum die Heranbildung multires-istenter Keime“, warnt Loewit.

Jahrzehntelang war die Entwicklung multiresistenter Keime durch den Einsatz von Antibiotika in der Nutztierhaltung ein wohl gehütetes Geheimnis der Industrie. "Inzwischen müsste den Anwendern dieser gefährliche Zusammenhang längst bekannt sein“, betont Loewit. Umso erschütternder das Ergebnis einer Untersuchung von Hühnerfleisch durch die Umweltorganisation Global 2000: In sechs von sieben Proben von "frischen Hühnern“ in österreichischen Supermärkten konnten die gesundheitsgefährdenden und antibiotikaresistenten Keime MRSA und ESBL nachgewiesen werden.

Medikamente im Trinkwasser

Dieser gefährliche Kreislauf betrifft nicht nur die Viehwirtschaft, sondern sogar unser Trinkwasser: Ständig gelangen Rückstände von Medikamenten, durch Harn und Stuhl ausgeschieden, in das Grundwasser - und damit auch in das Trinkwasser. "So werden sie erneut in unserem Körper aufgenommen. Diesmal allerdings ungesteuert - ohne Rezept, ohne Beipackzettel, ohne Qualitätskontrolle“, warnt Mediziner Loewit. "Das ist Behandlung für alle. Therapie ohne Diagnose.“

Millionen täglich eingenommener Antibabypillen landen über den Umweg von Trinkwasser und Nahrung in unseren Körpern. "Bei Männern kann dies das ungewollte Wachstum von Brüsten auslösen“, so Loewit. Verfahren zur Eliminierung von Östrogen aus dem Abwasser werden laufend entwickelt, kommen aber aus Kostengründen noch nicht zum Einsatz.

Übertriebene Reinlichkeit hingegen wird von vielen Medizinern mit einem geschwächten Immunsystem und in weiterer Folge mit der Entstehung von Allergien assoziiert. Bereits jeder vierte Österreicher leidet an mindestens einer Allergie. Verschiedene Studien belegen, dass der Schmutz, mit dem Kinder in Kontakt kommen, als eine Art "natürliche Impfung“ wirkt. "Viele dieser Mechanismen lassen wir aufgrund unserer übertriebenen Reinlichkeit nicht mehr zu“, kritisiert Loewit.

Eine Studie zu den Unterschieden in der Allergieanfälligkeit zwischen Stadt- und Landkindern lieferte aussagekräft0ige Ergebnisse: Josef Riedler, Primar am Kinder-Hospital Salzburg, und sein Team befragten die Eltern von 2283 österreichischen Kindern im Alter zwischen acht und zehn Jahren. Das Resultat: Kinder, die auf Bauernhöfen lebten, waren dreimal weniger anfällig für Heuschnupfen als Kinder aus der Stadt. Nur 1,1 Prozent der Kinder, die im Viehstall aus und ein gingen, litten an Asthma, dagegen aber 3,9 Prozent der Stadtkinder. Die Daten zeigten, dass Kinder sich nur häufig im Stall bei den Tieren herumtreiben müssen, um ihre Allergieanfälligkeit zu senken.

Bei all der körperlichen Hygiene vergessen wir gerne auf die Hygiene der Seele. "Die Psychohygiene - also mit Menschen zu reden, ihnen zuzuhören -wird in unserer Gesellschaft stark vernachlässigt. Auf körperlicher Ebene geht es hoch steril zu, aber das trifft leider auch auf die psychische Ebene zu“, konstatiert Loewit. Depressionen und Burnout - die Krankheiten unserer Zeit - könne man durchaus als allergische Reaktionen der Seele verstehen.

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