"Die Göttin der großen Dinge"

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Sie wird von den Mächtigen gehasst und den Machtlosen geliebt. Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy kämpft seit Jahren gegen den Bau umweltzerstörender Staudämme, Atomwaffen und die hemmungslose Globalisierung.

Manche Leute sagen, ich sei zu emotional. Nun, wenn die Vertreibung von 40 Millionen Menschen keine Emotionen in jemandem weckt, was braucht es denn dann, um solche Personen zu rühren?", fragt Arundhati Roy unter Verweis auf all jene Inder und Inderinnen, die im Zuge des Narmadaprojekts aus ihren Dörfern vertrieben worden sind oder noch vertrieben werden sollen.

Hunderte kleine und einige große Dämme sind im westindischen Narmadatal im Entstehen, hunderte Dörfer werden dabei überschwemmt. Roy spricht von einer "wirtschaftlichen, technologischen, ökologischen und menschlichen Katastrophe." Sie hat dagegen angeschrieben - und für ihren 1999 veröffentlichten Anti-Narmada-Essay "The Greater Common Good" eine erste gerichtliche Warnung erhalten; sie hatte bereits zuvor das Geld, das ihr der Booker-Preis 1997 für ihren erfolgreichen Erstlingsroman "Der Gott der kleinen Dinge" brachte, der Anti-Damm-Bewegung "Narmada Bachao Andolan" (NBA) gespendet; sie ist selbst seit einigen Jahren in der NBA aktiv. Und nun, in diesem März, hat sie wegen dieses Engagements einen Tag in Indiens größtem Gefängnis, Tihar in Neu Delhi, verbracht.

Die Haft- sowie eine zusätzliche Geldstrafe wurden vom Obersten Gericht gegen Roy verhängt, weil die Autorin die höchste Justiz der Parteilichkeit verdächtigt und damit "die Würde der Gerichtsbarkeit beschmutzt" habe. Auslöser war eine Kundgebung der NBA im Dezember 2000 gewesen, mit der die Umweltaktivisten gegen den Entscheid des Gerichts protestierten, die Fertigstellung eines der größten Dämme im Narmadatal zuzulassen. Fünf Anwälte brachten eine Klage gegen Roy ein, da diese schmutzige Slogans gerufen, die Anwälte physisch angegriffen und sie mit dem Tod bedroht hätte. Obwohl voller Fehler, wurde die Klage wegen "Missachtung der Justiz" zugelassen.

Roy beschloss, sich selbst zu verteidigen. Sie gab eine eidesstattliche Erklärung ab, in welcher sie ihr Entsetzen über die Bereitschaft des Gerichts ausdrückte, eine derart "absurde, verachtenswerte und völlig unbegründete Klage zuzulassen". Es gebe, betonte Roy, einen "beunruhigenden Hang seitens der Gerichte, Kritik zum Schweigen zu bringen, und jenen, die nicht einverstanden sind, einen Maulkorb umzuhängen, sie zu belästigen und einzuschüchtern."

Diese erste Klage der Anwälte wurde zwar 2001 vom Obersten Gericht zurückgewiesen, kurz darauf aber eine neue gegen Roy eingebracht, die sie der Verächtlichmachung der Gerichte in ihrer eidesstattlichen Erklärung beschuldigte. Roy kämpfte weiter. Sie betonte die Gefahr, die derartige Verfahren für das Recht auf freie Meinungsäußerung mit sich brächten. Wenn sich die Justiz dem prüfenden Blick der Öffentlichkeit entziehe, erklärte Roy, "wird ein weiterer Pfeiler der indischen Demokratie einstürzen". Die Richter konterten mit dem Vorwurf, es gehe nicht um Kritik an der Justiz, sondern um deren Ansehen. Wenn das Vertrauen des Bürgers in die Justiz erschüttert sei, sagte Richter Sethi, seien die Grundpfeiler der Gesellschaft erschüttert. Roy wurde verurteilt - und verließ Tihar so kampfesentschlossen, wie sie es betreten hatte: "Ich stehe zu dem, was ich in meiner eidesstattlichen Erklärung gesagt habe", betonte sie bei einer Pressekonferenz nach ihrer Freilassung.

Der Fall hat nicht nur eine heftige landesweite Debatte über die Rolle und Vertrauenswürdigkeit der indischen Gerichte ausgelöst. Die Feststellung der Richter, das Urteil gegen Roy sei deshalb so mild ausgefallen, weil es sich um "eine Frau" handle und man hoffe, "dass die Vernunft siegen und die Angeklagte weiser werden würde", empörte Feministinnen so sehr wie Roy selbst. Doch damit nicht genug, enthielt der Urteilsspruch noch dazu den Vorwurf, die Autorin sei "von ihrem ursprünglichen Pfad, auf dem sie ihren Beitrag zur Kunst und Literatur leistete", abgewichen. "Ich hoffe nur, dass das nicht bedeutet, dass Schriftsteller von nun an den Obersten Gerichtshof über den korrekten Weg für die Kunst und Literatur entscheiden lassen müssen", erklärte Roy nach ihrer Freilassung.

"Billige Slogans"

Es war nicht das erste Mal, dass die Autorin sich mit Angriffen dieser Art konfrontiert sah. Mit ihrem umwelt- und sozialpolitischen Engagement hat sie ihre Landsleute zutiefst gespalten. So sehr die Gegner von Mega-Staudämmen, von Atomtests und einer aggressiven Nuklearpolitik New Delhis sowie des Kriegs der USA gegen Afghanistan, aber auch der Globalisierung Roy als Mitstreiterin schätzen, so sehr empört ihr Engagement die Staudamm-, Nuklear-, Pro-Washington- und Pro-Globalisierungs-Lobby in Indien. In den teils mit einer extremen Aggressivität geführten Debatten steht dabei stets die Frage im Zentrum, ob denn eine Schriftstellerin ihre sprachlichen Fähigkeiten für solche Themen hergeben darf, soll - und, im Falle Roys, überhaupt kann.

In die Tradition der großen europäischen und lateinamerikanischen Intellektuellen als Dissidenten will der Rezensent der jüngst veröffentlichten Sammlung von Roys Aufsätzen mit dem Titel "The Algebra of Infinite Justice" die Autorin einfach nicht einreihen. Von "Pamphleten" und "billiger Slogan-Drescherei" spricht er - wie eine Reihe anderer Rezensenten vor ihm - abschätzig und höhnt: "Wenn ein Damm und ein paar Bomben die Fantasie der Autorin von ,Der Gott der kleinen Dinge' getötet haben, ist das sehr traurig und aufschlussreich. Wir wussten nicht, dass diese Fantasie so fragil war".

"Eine Rebellin ohne Kontext", "eine Dissidentin auf der Suche nach einem Thema", "das klagende Flussmädchen des Narmada", "Pinup-Girl einer Pseudorevolution am Flussufer", "die Göttin der großen Anliegen" und noch vieles mehr hat sich Roy schimpfen lassen müssen.

Wem es an anderen Einwänden ermangelt, dem bleibt immer noch der Spott auf "die Linke" und deren neuestes Idol mit Namen Roy: "Der Gewinn der fossilierten Linken ist ein großer Verlust für die Literatur", schrieb ein Kommentator. Während die einen ihren "Abstieg" vom Literaturhimmel in die "Tiefen des Aktionismus" beklagen, erkennen andere Kritiker selbst ihre aktivistischen Schriften als Werke von höchstem literarischen Wert an, um sie dann erst recht wegen ihrer inkompetenten Argumentation zu vernichten. "Wer meine Argumente entwerten will, beginnt oft mit einem extravaganten Kompliment über meinen ,spöttischen Stil'", sagt Roy. "Es ist fast so, als ob Poesie per se unpräziser, substanzloser Brei wäre. Nichts jedenfalls, auf das sich echte Männer, die Dämme bauen, je einlassen würden."

Maske der Demokratie

Roys Sprache ist freilich auch bei ihren Anhängern ein Thema. "Arundhati steht voll zu uns. Wir lieben und achten sie", schwärmt Medha Patkar, Begründerin und seit nunmehr mehr als eineinhalb Jahrzehnten Leitern der NBA, und ergänzt: "Ihre Sprache ist wunderbar. Sie sagt fantastische Dinge, die ich nie sagen könnte. Es ist, wie wenn man ein Gedicht liest." Roys entscheidender Beitrag aber liege darin, dass sie das Staudammthema "in die Wohnzimmer der Wohlhabenden getragen hat. Sie hat es möglich gemacht, dass neue Gesellschaftsschichten sich mit diesem Thema auseinandersetzen", betont Patkar.

"Mit ihrer unnachahmbaren Stimme, ihrer enormen moralischen Empörung und ihrer reichen Fantasie hat Roy die Maske der indischen Demokratie weggezogen. Hier ist eine in Feuer gezeichnete Skizze dieser Gesellschaft, wo die Leben der vielen für das Wohlbefinden der wenigen geopfert werden", stellte sich Salman Rushdie, der 15 Jahre vor Roy mit dem britischen Booker-Preis ausgezeichnet worden war, hinter die Autorin als Aktivistin, die - Kritik hin und Lob her - in jedem Fall "ihren" Weg gehen würde. Die 1961 geborene Tochter syrischer Christen, die im südlichen Bundesstaat Kerala aufwuchs, hat nach eigenen Worten "stets Fragen und die Dinge in Frage gestellt". Vorgegebenen Regeln konnte sie so wenig abgewinnen wie standardisierten Lebensmustern. Sie war entschlossen, ihre "eigenen Verträge mit der Welt abzuschließen".

Dissidente Stimme

Als Architektin ausgebildet hat sie als Aerobiclehrerin, Filmemacherin und Saftverkäuferin am Strand gearbeitet. Und als sie es sich finanziell leisten konnte, hat sie, die tief drinnen immer gewusst haben will, dass sie Autorin ist, Jahre ihrem Erstlings- und bisher einzigen Roman gewidmet. "Auch wenn er kein Erfolg geworden wäre, für mich wäre die Erfahrung des Schreibens gleich wichtig gewesen", sagte Roy kurz nach der Auszeichnung mit dem Booker. Und auf die Frage, ob sie weitere Bücher plane, versicherte sie damals, auch nach dem internationalen Prestige, das ihr "Der Gott der kleinen Dinge" einbracht habe, fühle sie sich zu nichts verpflichtet. Sie werde nur schreiben, wenn sie etwas zu sagen habe.

Und sie hat viel zu sagen gehabt seit 1997. Nicht die kleine Welt Keralas ist im Mittelpunkt gestanden, sondern größere Fragen zum politischen System Indiens und zur Weltpolitik haben sie bewegt. "Der Raum für dissente Stimmen wird immer enger, und nicht nur in Indien", betont sie. Dagegen wollte sie in dem jüngsten Verfahren ankämpfen und wird es weiter tun. Tihar hat sie nicht abgeschreckt.

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