Die harte Landung der Samt-Kinder

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Sie waren die Hoffnungsträger der Slowakei, die ersten, die in Freiheit aufwuchsen. Nun sind die Kinder der Samtenen Revolution erwachsen, und können die Erwartungen, die ihre Eltern an sie hatten, nicht erfüllen. Ein Porträt einer enttäuschten Generation.

Wir hätten die glorreiche Zukunft dieses Landes sein sollen“, sagt Paló, "weil wir die ersten waren, die frei lebten. Aber im Grunde sind wir Geiseln in der Slowakei.“ Paló ist 32 Jahre alt, ausgebildeter Schauspieler, hat große Visionen. Doch statt Kostüme zieht er jeden Tag eine Uniform an, er arbeitet als Steward für eine slowakische Fluglinie, für weniger als 600 Euro im Monat. "Es war naiv, zu glauben, dass mich jemand dafür bezahlt, etwas zu tun, das ich gern mache“, sagt er heute. Paló ist einer von drei Jungakademikern, die der Filmemacher Tomaˇs Krupa in seiner Dokumentation "Absolventi“ porträtiert. Drei Jahre lang hat er Paló und die anderen mit der Kamera begleitet, und erlebt, wie weit ihre Erwartungen an das Leben nach dem Studium von der Realität entfernt liegen. Tomaˇs Krupa, 29 und Absolvent der Universität von Banská Bystrica, gehört selbst der Generation an, die er porträtiert. Und die ist vor allem eines: enttäuscht.

Der Fluch der großen Erwartungen

Sie haben den Kommunismus - wenn überhaupt - nur mit Kinderaugen gesehen. Sie waren Babys, als die Studentendemos im November 1989 die Samtene Revolution einläuteten. Nach der Wende war ihre Rolle besiegelt: Sie waren keine Erben, sondern Aufsteiger - aus Prinzip. Jetzt sind sie erwachsen, ihre Eltern sind von Altersarmut bedroht und sie selbst leben von der Hand in den Mund.

Die Versprechen der Revolution, beanstanden sie, wurden nicht gehalten: Trotz hohen Wachstumsraten und Euro gibt es keinen breiten Wohlstand. Das Durchschnittseinkommen in der Slowakei liegt bei weniger als 800 Euro im Monat. Und mit fast 38 Prozent hat das Land die dritthöchste Jugendarbeitslosigkeit Europas. Nur in Spanien und Griechenland finden noch mehr junge Menschen keine Jobs. "Freedom is not for free“, heißt der Untertitel von Tomaˇs Krupas Dokumentation. "Auch wir können nicht tun, was wir wollen“, fügt er hinzu. "Wir werden eben nicht, wie unsere Eltern, von einem politischen Regime unterdrückt, sondern von einem ökonomischen.“ Sein Film, der ab November in den slowakischen Kinos gezeigt wird, übt Kritik: "An einem demokratischen System, das uns vorgibt, alles erreichen zu können - und an uns selbst. Weil es viel einfacher ist, das System zu bedienen, als dagegen aufzutreten.“

Dabei ist es noch gar nicht lange her, dass die jungen Slowaken tatsächlich auf die Straße ging. Im Winter diesen Jahres gab es die ersten großen Proteste seit der Samtenen Revolution, getragen von einer neuen Generation. Enthüllungen über eine Korruptionsaffäre, die "Akte Gorila“, brachten trotz eisiger Kälte bis zu 15.000 Menschen auf den Hauptplatz von Bratislava. Auch in anderen Städten wurde demonstriert: In Trencín, eine gute Autostunde von Bratislava entfernt; in Poprad am Fuße der Hohen Tatra; in Banská Bystrica in der Zentralslowakei oder in Koˇsice, ganz im Osten, marschierten die Menschen durch den Winter.

"Ich schaffe das, alleine.“

Im Organisationsteam war damals Alena Krempaská, 24, Studentin der Internationalen Politik. "Allerdings nicht von Anfang an - und ich habe mich bald zurückgezogen“, erzählt sie. In ihren aktiven drei Wochen schlief sie nur vier Stunden am Tag, hing dafür zwölf Stunden am Telefon und nahm vier Kilo ab. "Es war eine tolle, intensive Zeit, aber es ist auch viel schiefgelaufen.“ Es gab interne Schwierigkeiten, die Organisatoren waren uneins über Ziele und Forderungen, eine Abgrenzung von Provokateuren fehlte. Vor allem aber war das Timing schlecht: Der Protest fand in einem politischen Vakuum zwischen der Abberufung der Regierung und der Neuwahl statt. Mit der Wahl kam eine neue Regierung unter dem sozialdemokratischen Premierminister Robert Fico, der als erster Ministerpräsident der Slowakei ohne Koalitionspartner regieren kann, und beteuert, der Korruption ein Ende zu setzen - und die Proteste verstummten.

"Bei so etwas haben die Slowaken einfach zu wenig Ausdauer“, bedauert Alena Krempaská, "und zu wenig Gemeinschaftssinn. Meine Generation ist die freieste, die es je gab. Sie hat nichts für gemeinsames Handeln über.“ Nicht einmal auf der Fakultät für Politikwissenschaften gebe es eine intakte Studentenvertretung, kritisiert sie. Und nach dem Protest wäre niemand im Stande gewesen, eine Plattform zu etablieren, auf der man sich weiter austauschen könne.

Krempaská hat an der renommierten Pariser Sciences Po studiert. Seit sie zurück ist, kommt ihr die Slowakei noch kleiner vor als davor. Auch ihre Altersgenossen sieht sie kritisch: "Es ist leicht, gegen Korruption zu sein. Aber kaum jemand tritt für etwas ein. Es geht jedem nur um sich selbst.“ Ihre Studienkollegen, erzählt sie, malten sich alle ihre Zukunft in Wolkenkratzern aus, als reiche Elite des Landes. Schließlich hätten sie ja studiert. "Ich glaube, das wird eine Zukunft voller Enttäuschungen“, sagt sie knapp.

Überqualifiziert und unterbeschäftigt

Denn studiert haben in der Slowakei bald fast alle: Beinahe hundert Prozent der Schüler schließen eine Oberstufe ab. Danach studieren 60 Prozent an der Universität, die überwiegende Mehrheit hängt nach dem Bachelor noch einen Master dran. So beeindruckend diese Zahlen auch nach Wissensgesellschaft klingen - gerade die vielen Studenten sind ein Grund für die hohe Jugendarbeitslosigkeit, erklärt der Ökonom Michal Páleník vom Institut für Beschäftigung: "Und zwar im doppelten Sinn“. Einerseits, argumentiert er, verzerre die Masse an Studenten die Statistik: "Die Jugendarbeitslosenquote rechnet Arbeitende gegen Nicht-Arbeitende. Dadurch hebt jeder Student die Arbeitslosenquote.“ Anderseits produziere das Bildungssystem zwar Absolventen wie am Fließband, allerdings am Arbeitsmarkt vorbei: "Es wird zu viel Augenmerk auf die formale Bildung gelegt - und viel zu wenig auf die tatsächlichen Ergebnisse.“ Spätestens nach dem Abschluss fallen arbeitslose Akademiker also auch statistisch ins Gewicht. Von 380.300 registrierten Arbeitslosen in der Slowakei sind 140.400 unter 29 Jahre alt. Von denen wiederum hat jeder Dritte einen Uni-Abschluss.

"Die Eltern drängen ihre Kinder auf die Unis, weil sie selbst nicht studieren konnten. Und weil sie meinen, man braucht ein Studium, um erfolgreich zu sein“, sagt Páleník. "Und die Unis nehmen jeden Studenten, den sie kriegen können, weil sie pro Kopf bezahlt werden.“ Obwohl die Zahl der Jugendlichen in der Slowakei, wie in anderen europäischen Ländern auch, stetig abnimmt, wurde die Zahl der Schulen nicht reduziert. Universitäten gibt es jetzt sogar mehr als vor zehn Jahren. "Während der Krise bat die Regierung die Unis, noch mehr Studenten aufzunehmen“, ärgert sich Paléník. Er ärgert sich nicht, weil er gegen Bildung ist. Sondern weil das Falsche gelehrt wird. 140.000 Menschen studieren derzeit an dreißig Unis. 42.700 Absolventen haben im Vorjahr ihr Studium abgeschlossen, mehr als die Hälfte davon in sozialwissenschaftlichen Fächern. Nur zehn Prozent aller Absolventen werden einen Job finden, der ihrer Ausbildung entspricht. Um die anderen 90 Prozent geht es in Tomaˇs Krupas Dokumentation: "Uni für alle, das war eine nette, demokratische Idee“, schlussfolgert der, "aber offensichtlich hat sie nicht funktioniert.“

Orangenpflücken in Irland

Um die anderen 90 Prozent will sich auch die neue Regierung kümmern. Das hat sie zumindest versprochen. Neu eingeführt wurden subventionierte Absolventenpraktika: Bis zu sechs Monate können Jung-akademiker in Unternehmen arbeiten, mit Glück werden sie übernommen. Das Gehalt, 190 Euro im Monat, zahlt der Staat, die Vermittlung läuft über das Arbeits- und Sozialamt. "Viele Absolventen haben gar keine praktische Erfahrung“, sagt Margita Adamˇcíková, die Leiterin des Arbeitsamts in Koˇsice. 450 Kilometer östlich von Bratislava hat sie mit Problemen einer anderen Dimension zu kämpfen: Während in der Hauptstadt knapp 6 Prozent der Gesamtbevölkerung arbeitslos ist, sind es in der Region um Koˇsice mehr als 22 Prozent.

In der ersten Septemberwoche, erzählt sie, ist der Andrang besondes groß. Denn bis Ende August bekommen Studenten noch Familienbeihilfe ausbezahlt. Wenn sie danach nicht weiterstudieren, müssen sie sich innerhalb von einer Woche als arbeitslos registrieren lassen. "Zwischen 1. und 7. September rennen sie uns die Türen ein“, meint Adamˇcíková. Manchen wird sie ein Absolventenpraktikum vermitteln können. Viele müssen mit Tipps vorlieb nehmen: "Wir stellen Informationen zur Verfügung, welche Fähigkeiten und Ausbildungen am Arbeitsmarkt gefragt sind.“ Bei deren Aneignung kann sie nicht helfen. Für Schulungen oder Kurse gibt es kaum Geld. Pro Arbeitslosen gibt die Slowakei im Jahr rund 14 Euro für Weiterbildungsmaßnahmen aus. In Österreich sind es 6.000 Euro.

Wer will, kann auch in den "Arbeitsklub“ gehen. In dieser Einrichtung für arbeitslose Jugendliche, gibt es vier Computer mit Inernetzugang, Vorlagen für Lebensläufe und Motivationsschreiben. Und detaillierte Informationen darüber, wie man im europäischen Ausland arbeiten kann. Besonders gefragt sind Küchenhilfen, Call Center-Agenten und Arbeiter in der Hotellerie, verrät eine Powerpoint-Folie am Bildschirm der Trainerin. Weil es in Koˇsice so wenige Jobs gibt, rät sogar das Arbeitsamt seinen Jungen, die Region zu verlassen. Rund 55.200 Slowaken unter 35 arbeiten zurzeit im Ausland. Nicht selten findet man Uni-Absolventen aus der Slowakei auf britischen oder irischen Baustellen oder Gemüsefeldern. Alena Krempaská kellnerte früher in einem mexikanischen Restaurant in den USA. Und Daniel Augustin pflückte Orangen in Irland. Der 27-jährige Informatiger sitzt heute auch im "Arbeitsklub“. Vor vier Wochen verlor er seinen Job bei einem Zulieferer von Nokia. Jetzt klickt er sich durch Folien und lässt sich erklären, wie er sich in Großbritannien als Koch bewerben kann. "Eigentlich möchte ich in Koˇsice bleiben“, gibt er zu, "aber wenn ich hier nichts finde, muss ich wohl weggehen.“ Aber auch im Ausland, meint der Ökonom Michal Páleník, sinkt der Bedarf an slowakischen Arbeitskräften seit der Krise: "Viele kommen jetzt wieder zurück.“

Neues Leben durch Kreativität

Einige von ihnen sitzen um einen Campingtisch zwischen Plattenbauten und schneien bunte Sticker aus. Viktor Feher, 29, ist nach insgesamt fünf Jahren in Tschechien und England wieder nach Koˇsice zurückgezogen. Dort hat er die Bürgerinitiative "Street Art Communication“ gegründet, die sich für eine Neugestaltung des öffentlichen Raumes einsetzt und ein Straßenkunst-Festival organisiert. Die Vorbereitungen dafür laufen gerade auf Hochtouren. "Es tut sich viel in der Stadt“, sagt Viktor.

Er gehört zu einer Gruppe Kreativer, die die lokale Kulturszene neu belebt. Auch Michal Hladky treibt diese Entwicklung voran. Der Architekt entschied sich vor fünf Jahren bewusst, in seiner Heimatstadt zu bleiben. Mittlerweile betreibt er seine eigene Design-Firma und entwarf das Kultur-Projekt, das der Industriestadt im Osten den Titel "Europäische Kulturhauptstadt 2013“ einbrachte. Das bringt Förderungen, mit denen eine kulturelle Infrastruktur aufgebaut wird, die auch nach dem Jahr 2013 weiterleben soll. "Wir wollen langfristige Transformation erreichen, und nicht nur eine einjährige Kultur-Show abliefern“, erklärt Christian Potiron.

Deshalb wird auch am Stadtbild gearbeitet. Das ist in Koˇsice nämlich besonders spannungsreich: Hinter der mittelalterlichen Altstadt wachsen bunte Plattenbausiedlungen aus dem Boden. "Man sieht genau, wann sie gebaut wurden,“ erklärt Potiron beim Spaziergang durch den Betonwald. "In den 60ern wurden noch Grünräume eingeplant, ab den späten 70ern ging’s nur mehr um viel Raum für viele Menschen.“ Potiron ist Franzose, vor zehn Jahren zog der Kulturmanager in die Slowakei. Er leitet das Projekt SPOTs, bei dem unbenützte Transformatoren-Hütten in Wohnsiedlungen in Kulturzentren verwandelt werden. Die Bewohner werden dabei von Anfang an einbezogen. So haben alte Damen in Strick-Workshops ihre Fingerfertigkeit an junge Künstler weitergegeben, die wiederum mit der neu erlernten Technik den öffentlichen Raum gestalteten, also: Laternen umstrickten. Ein Theaterstück über das Leben von Stahlarbeitern, das in einer der umfunktionierten Hütten aufgeführt wurde, basierte auf Erzählungen der Bewohner der umliegenden Häuser. Potiron könnte auch in Paris, London oder New York arbeiten. Er hat sich aber für Koˇsice entschieden: "Wenn man hier initiativ wird, kann man wirklich etwas ändern.“

"Wir müssten öfter aufstehen“

Doch obwohl sogar der Bürgermeister verspricht, Koˇsice zu einem neuen Kreativzentrum zu machen, glauben nicht alle daran. "Als Künstler hat man in dieser Stadt keine Zukunft“, ist Luboˇs Micek überzeugt. Der 23-jährige Kunststudent organisiert beim anstehenden Straßenkunst-Festival mit, zum letzten Mal. Nächstes Jahr wird er die Slowakei verlassen und einen Job in Amsterdam annehmen. "Es ist schmerzhaft, zu sehen, wie die Kreativität abwandert“, sagt Christian Potiron.

Auch Natalia will so rasch wie möglich weg. Ihr Medizinstudium hat die 20-Jährige nur begonnen, weil sie in Kunst keine Zukunft sieht. Jetzt malt sie nebenbei und träumt von einer Karriere im Ausland. "Sobald ich mein Diplom habe, verlasse ich das Land.“ Wohin, ist ihr egal, Hauptsache: weg. "Ich verzweifle an der Politik in der Slowakei, und auch an den Menschen. Den meisten geht es doch nur ums Konsumieren. Wir missbrauchen die Freiheit, die wir haben.“

Beim Protest im Winter war die ganze junge Kunst-Szene aus Koˇsice dabei. Luboˇs Micek hat die Transparente gestaltet. "Aber es ändert sich doch sowieso nichts“, meint er.

Ist die slowakische Jugend, deren Zukunft samtweich und hoffnungsvoll begonnen hat, keine Generation von Aufsteigern, sondern von Abwanderern? Von Aufgebern?

"Ich halte meine Ansprücher niedrig, träume weder von einer Villa, noch von großen Autos“, sagt Alena Krempaská.

"Vier Jahrzehnte Unterdrückung kann man nicht in zwanzig Jahren aus dem Gedächtnis löschen. Auch wir haben die Erinnerung noch in uns“, sagt Tomaˇs Krupa.

"Es hat vierzig Jahre gedauert, dass wir zum politischen Regime Nein gesagt haben und noch einmal zwanzig, dass wir uns gegen Korruption aufgelehnt haben“, sagt Viktor Feher. "Glaubt mir, es wird noch mehr kommen.“

Am Sonntag, dem 9. September, ist wieder eine Demonstration durch Bratislava ge-plant, genau ein halbes Jahr nach dem letzten Protest vor der Wahl. "Vielleicht können wir wirklich die Generation der Aufsteiger sein“, sinniert Viktor, "wenn wir alle zusammen öfter mal aufstehen.“ Alt genug dafür sind die Kinder der Samtenen Revolution ja.

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