Die heile Welt und ihre Schatten

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Wenn die Krise zum Dauerzustand wird und die Unsicherheit zunimmt, wächst die Sehnsucht nach alternativen Zukunftsentwürfen. Doch damit Utopien von einer besseren Welt nicht in ihr Gegenteil umschlagen, müssen sie bestimmte Kriterien erfüllen.

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Wenn die Krise zum Dauerzustand wird und die Unsicherheit zunimmt, wächst die Sehnsucht nach alternativen Zukunftsentwürfen. Doch damit Utopien von einer besseren Welt nicht in ihr Gegenteil umschlagen, müssen sie bestimmte Kriterien erfüllen.

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Ab und zu kommen auf leisen Sohlen die Tagträume - und plötzlich ertappt man sich in einer anderen Welt, ohne Stress, ohne Chefs, ohne Druck. Die Reisewerbung lebt von dieser Sehnsucht nach einer paradiesischen Welt, in der es weiße Strände, grüne Wiesen und einen ewig blauen Himmel gibt. Ein Leben, in dem man heute dies, morgen jenes tun kann, in der Früh joggen, nachmittags ein Computerprogramm entwerfen oder eine Sprache lernen, abends mit Freunden zusammensitzen - einfach wozu man gerade Lust hat.

So ähnlich beschreibt Karl Marx, der wirkmächtigste Utopist der letzten Epochen, um 1845 das Ideal einer nicht-entfremdeten Existenz. Im 20. Jahrhundert hat die marxistische Theorie "Utopie" zu einem der "großen Worte" gemacht. "Utopie" war das Markenzeichen der Hoffnung auf bessere, gerechtere, nicht entfremdete Verhältnisse. In seinem Werk "Prinzip Hoffnung" zeichnete der Philosoph Ernst Bloch die vielen Schattierungen nach, in denen sich diese Hoffnung manifestiert. Das Buch erschien 1954 in der DDR und in gewisser Weise hatten die Marxisten "Utopie" für sich gepachtet, obwohl der "real existierende Sozialismus" eher einer Dystopie, also einer Anti-Utopie, glich. Nach dem Ende des Sowjet-Imperiums und der Ost-West-Konfrontation verschwand "Utopie" nahezu völlig aus dem öffentlichen Wortschatz. Stattdessen propagierte der Politologe Francis Fukuyama 1989 "Das Ende der Geschichte", weil sich nun "die eine Ordnung", nämlich die "Pax Americana", durchsetzen würde. Fukuyamas These wurde rasch falsifiziert - der Einmarsch von US-Truppen in Afghanistan und im Irak führte zu geopolitischen Kettenreaktionen, deren Ende heute, mehr als zehn Jahre später, in keiner Weise abzusehen ist. Als Spätfolge des Irak-Kriegs sieht der Ökonom Joseph E. Stiglitz auch die Wirtschaftskrise, die nicht zuletzt aus der massiven US-Verschuldung zur Kriegs-Finanzierung resultiere.

Krise als Dauerzustand

Die Krise scheint nun Dauerzustand und ein Ende ist nicht abzusehen. Unsicherheit und soziale Ungleichheit nehmen global zu - und damit die Unzufriedenheit mit dem Status quo. Immer deutlicher wird, dass es nicht mehr so weitergehen kann wie bisher. Es braucht nachhaltige Alternativen - Zukunftsentwürfe, die nicht nur bis zu den nächsten Wahlen reichen.

Die Frage ist, welche Kriterien diese Utopien erfüllen müssen, damit sie nicht unter der Hand zu Dystopien werden.

Debatten um Utopia

"Utopos" heißt "Nicht-Ort" - und ist eine Insel, jedenfalls in der Erzählung eines Seemanns des 16. Jahrhunderts, der seinen staunenden Zuhörern beim gemütlichen Abendessen davon erzählt. Die Inselbewohner leben in einer idealen Gesellschaft: Die Güter sind gleichmäßig verteilt, es gibt kein Geld, Bildung für alle ist Vergnügen und Pflicht zugleich, die Krankenversorgung optimal und die Herrschaft demokratisch gewählt. Natürlich hat es "Utopia" nie gegeben - es ist eine literarische Fiktion, mit der Thomas Morus, Lordkanzler unter Englands Heinrich VIII. und später Märtyrer, das soziale Unrecht seiner Zeit kritisiert. Hatten die Wiesen früher allen im Dorf gehört, zogen nun Großgrundbesitzer Zäune um sie und errichteten auf früherem Ackerland Textil- oder landwirtschaftliche Großbetriebe. Die kleinen Bauern, deren Tiere auf der Allmende geweidet hatten und die von kleinen Äckern einen kärglichen Lebensunterhalt bezogen hatten, verloren ihre Lebensbasis, mussten Haus und Hof zu Schleuderpreisen an Spekulanten verkaufen und in die Großstädte abwandern. Dort aber gab es keine Arbeit, und so blieb ihnen nur Betteln oder Diebstahl, worauf die Todesstrafe stand. Der ideale Staat "Utopia" lieferte dazu einen Gegenentwurf, von dem Ernst Bloch schrieb, hier sei erstmalig "Demokratie im humanen Sinn, im Sinn öffentlicher Freiheit und Toleranz mit Kollektivwirtschaft verbunden" worden - ein Projekt, das Frühsozialisten des 19. Jahrhundert umsetzen wollten.

Doch schon viel früher gab es "Libertalia": Um 1700 sollen Piraten in Madagaskar einen Staat der "Freien" gegründet haben, der rund 50 Jahre lang Bestand hatte. Nachlesen kann man das in der "Allgemeinen Geschichte der Piraten"(1724), die gerade erstmals in einer deutschen Übersetzung erschienen ist (Matthes & Seitz). Daniel Defoe soll nicht nur "Robinson Crusoe", sondern auch diese Berichte über die Piratenrepublik veröffentlicht haben. Dass der Piraten-Staat nicht bloß eine Legende war, legen historische Quellen nahe, die sich in dem gründlich kommentierten Band finden. Es gab um 1700 am Horn von Afrika Seeräuber, die Sklavenschiffe kaperten, um den gefangenen Afrikanern ihre Freiheit wiederzugeben, da sie die Sklaverei ablehnten. Die Männer nannten sich "liberi","Freie", und nahmen jene Afrikaner, die sich ihnen anschließen wollten, als Gleiche unter Gleichen auf. Zu ihren Grundsätzen gehörte u. a. die gerechte Verteilung der Beute; jede Stimme hatte gleiches Gewicht, über Religion durfte nicht gestritten werden und bei Gerichtsverfahren durfte der Angeklagte die Hälfte der Geschworenen selbst aussuchen. Die Regeln der Piraten sind pragmatisch - es ist ein Staat auf genossenschaftlicher Basis, so wie das Modell, das der Unternehmer und Frühsozialist Robert Owen zu Anfang des 19. Jahrhunderts umsetzte. Seine Reorganisation der Baumwollspinnereien von New Lanark (Schottland) war beispielgebend für die spätere Genossenschaftsbewegung.

Soziale Ungleichheit

Doch schon im "Staat", den Platon im vierten Jahrhundert vor Christus als ideales Gemeinwesen entwarf, sollten nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern das gesamte Leben der Menschen reglementiert werden. Abweichungen wurden unter Strafe gestellt. Dieser totalitäre Zug findet sich bei den Wiedertäufern in Münster 1534/35 und in Genf nach 1541, als Calvin die Stadt in einen religiösen Musterstaat verwandeln wollte: Überall dort, wo ein ideales "reines" Staatswesen, errichtet werden soll, werden "die Anderen" ausgegrenzt und oft auch ausgemerzt. Das Phantom der "Reinheit" bestimmt totalitäre Fantasien und Projekte bis in die Gegenwart. Wie die "Unreinen" genannt werden - Klassenfeinde, Ungläubige, Antichristen usw. - ist dabei unerheblich. Der strikte Dualismus zwischen dem "Bösen" und dem "Guten" führt zu Gewalt nach innen wie nach außen. Deswegen sind die totalitären Regeln von "Utopia" problematisch, gibt Thomas Morus zu bedenken. Sein Buch von 1516 fordert die Leser zu eigenem Nachdenken auf, wie Gerechtigkeit und Gleichheit organisiert werden kann.

Denn die soziale Ungleichheit bedroht Wohlstand und Frieden: Laut der Hilfsorganisation OXFAM wird 2016 ein Prozent der Weltbevölkerung mehr als die restlichen 99 Prozent besitzen. Utopien sind aktuell als Bilder von "heilen Welten", die notwendig sind, um in einer schwierigen Gegenwart Orientierung zu behalten. "Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus", schrieb Jürgen Habermas. Die Kritik der immanenten Gewalt von Wunschbildern ist deswegen umso wichtiger.

TIPP

Utopien auf dem Prüfstand

Das Symposion Dürnstein hat sich in den vergangenen Jahren mit interessanten Themen und hochkarätigen Vortragenden eine breite Resonanz verschafft. Dieses Jahr hat die Autorin dieses Artikels, die auch Kuratorin in Dürnstein ist, mit dem Thema Utopien eine aktuelle Diskussion aufgegriffen, ist doch auch die aktuelle Diskussion um die Rezepte gegen die Krise durchsetzt von Utopien mit ihren handlangenden Ideologien und Ideologen. Aktuelles Beispiel: Griechenland. Als Redner konnte heuer der Soziologe Oskar Negt gewonnen werden.

Glücksbilder

Die Wirklichkeit der Utopien

Symposion Dürnstein, 19.- 21.2., www. symposionduernstein.at

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