Die heimlichen Herrscher der Familie

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Früher mußten sich Kinder ihren Eltern radikal unterordnen. Heute ist es nicht selten umgekehrt. Opfer sind vorwiegend die Mütter.

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Früher mußten sich Kinder ihren Eltern radikal unterordnen. Heute ist es nicht selten umgekehrt. Opfer sind vorwiegend die Mütter.

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An etikettierenden Stereotypien zum Thema modernen Kindseins besteht schon bislang kein Mangel: Ob Jirina Prekop, David Elkind, Jesper Juul, Ulrich Beck oder Redakteure des Spiegel, jeder Autor pflegt sein verallgemeinerndes Bild. Das Kind ist demnach heute ein Elternschreck von der Sorte "Der kleine Tyrann", vom Zeitgeist gestreßt "Das gehetzte Kind", dem konstatiert wird, "Das kompetente Kind" zu sein; allesamt sind sie pauschal die "Kinder der Freiheit", subsumiert unter "Die Eigensinnigen". Nun setzt Holger Wyrwa, Kindertherapeut in einer psychologischen Praxis, mit dem soeben erschienenen Titel "Die Schlaraffenland-Kinder - Kinder, die ihre Mütter mißbrauchen" (Beltz Quadriga, 1998, öS 218,-) noch eins drauf.

Die modernen Formen der Verwöhnung von Kindern sind - seit von Friesen 1991 den Begriff von der "Schlaraffisierung der Kindheit" geprägt hat - ein beliebtes Thema in diversen Medien. Erst neulich hat "Die Zeit" von der "Mutation vieler Zeitgenossen zum Homo schlaraffensis" geschrieben. Brauchen wir nach all den bereits vorliegenden Kategorisierungen, Beschreibungen und Analysen dieses Buch über die modernen Formen der Verwöhnung?

Wir brauchen! - Wobei mit "wir" nicht der Adressatenkreis abgehobener Elfenbeinturmpädagogen gemeint ist, sondern vorwiegend die Praktiker des manchmal schwierigen alltäglichen Erziehungsgeschehens. Laut Klappentext wendet sich die vorliegende Neuerscheinung - fernab ein einfaches Ratgeber-Buch zu sein - an Eltern, "denen die Kinder auf der Nase herumtanzen" und die sich täglich von ihren Kindern beleidigen, demütigen und terrorisieren lassen (müssen), ohne sich zu wehren. Eltern, die sich unter vorwurfsvollen Blicken von Angehörigen, Freunden, Nachbarn, Lehrern oder selbst des Partners an allem schuldig fühlen. Holger Wyrwa hat reichlich praktische Erfahrung als Kinder- und Jugendtherapeut. Seine Fallepisoden wirken authentisch, ganz offensichtlich weiß der Autor, wovon er unverblümt erfrischend und offen spricht: "Sie kommen nach Hause und schreien ,Hunger', und wir beeilen uns, ihnen etwas zu essen zu machen. Sie weigern sich, minimale Aufgaben im Haushalt zu erledigen. Rücksichtnahme ist für diese kleinen Monster ein Fremdwort. Bekommen sie nicht, was sie wollen, werden sie zornig, drohen und quengeln solange, bis ihr Wunsch erfüllt wird. Sie bestimmen, was im Supermarkt gekauft wird und welche Marke bei Neuanschaffungen zu nehmen ist. Sie bekommen ein Übermaß an Zuwendung und Freiheiten und werden oft wie gleichberechtigte Partner behandelt."

Wenn auch das Bild vom Schlaraffenland in ökonomischer Hinsicht für eine Vielzahl von Kindern nicht mehr ganz stimmig ist, in den Beziehungen zu Erwachsenen lebt der Nachwuchs vielfach noch immer in einem märchenhaften Schlemmerland einseitig-rücksichtslosen Nehmens. Die Erziehungsmythen der postmaterialistisch-hedonistischen Wohlstandsgesellschaft entfalten gerade ihre Langzeitwirkung und stehen gegenwärtig in Hochblüte. Aber, obwohl sich dies anbieten würde, hält sich der Autor nicht lange bei abgehobenen Gesellschaftsanalysen oder Zeigeist-Kritik auf; auch auf eine Abrechnung mit dem Kinderkult und der Erziehungsideologie der 68er Generation verzichtet er. Genervte Eltern und Erzieher werden ihm dankbar sein, wenn er statt dessen konkreten und praktischen Fragestellungen nachgeht: Warum lassen sich Eltern, vor allem Mütter ein derartiges Verhalten von ihren Kindern bieten? Warum ist es so schwierig, Grenzen zu setzen?

Anhand vieler realistisch geschilderter Einzelbeispiele gelingt es, die verhängnisvolle Macht von Erziehungsmythen bewußt zu machen, aus der die "Schlaraffenland-Mentaliät" von Kindern resultiert. Ob es der Mythos vom "wehrlosen", "unschuldigen", "hilflosen" oder "seelisch zerbrechlichen" Kind ist - immer läuft es darauf hinaus, daß Kinder ihn mehr oder weniger bewußt einsetzen, um sich gegenüber ihren Eltern und vor allem der Mutter Vorteile zu verschaffen. Dabei beläßt es der Autor nicht bei der Entlarvung dieser Mythen, sondern zeigt am konkreten Exempel Möglichkeiten auf, wie das Verhalten der Kinder positiv verändert werden kann. Das Buch vermag dem Leser seine eigene Verstrickung in zum Teil vorher nicht bewußte Erziehungsmythen bewußt zu machen - darin liegt sein Hauptverdienst. Wem derlei Impulse und Reflexionen zur erfolgreichen Verhaltensänderung gegenüber dem Kind unzureichend sind, kann sich mit den angebotenen praktischen Lösungsstrategien versuchen, einem "Drei-Phasen-Modell der Einstellungsänderung" verhaltenstherapeutischer Ausrichtung. Vor blinder Übernahme der einzelnen Schritte ist - wie bei allen "Programmen" im Umgang mit Kindern - zu warnen. Eine unreflektierte Übernahme von Handlungsanweisungen wäre allemal ein schlechter Tausch für überwunden geglaubte Erziehungsmythen.

Wyrwa setzt sich primär mit den Müttern auseinander (man kann ihm den Vorwurf der Ausklammerung der Väter nicht ganz ersparen!), weil er glaubt, daß es vor allem in deren Händen liegt, sich von der Schlaraffenland-Erziehung zu verabschieden. Mütter hätten durchwegs ein problematisches Verhältnis zur Macht. Ihr Erziehungsverhalten sei durch die vollständige Tabuisierung der Macht-Dimension geprägt, sowie durch einen Liebesbegriff, der bewußten Einsatz von Macht und Grenzsetzung ausschließe: Ein Kind, das man grenzenlos liebt, will man nicht beherrschen. Mütter wollen nicht einmal die Möglichkeit dazu haben. Vielmehr wollen sie gleichberechtigte Partner ihres Kindes sein. Am liebsten würden sie reale und natürliche Macht vergessen, sie vollkommen aus ihren Gedächtnis löschen und sich ganz dem Gefühl hingeben, daß Mutter und Kind gleich sind, mit den gleichen Rechten (allerdings ohne die gleichen Pflichten). Hier trifft sich Wyrwa mit der vielfach geäußerten Kritik an den Auswüchsen des Kinderkults der letzten Jahrzehnte, der in der völligen Gleichmacherei von Eltern und Kind gipfelte und Familie als Ort absoluter Demokratie sah. Statt dessen plädiert der Autor unter Verzicht auf soziologisch-pädagogisches Kauderwelsch für einen bewußteren Umgang mit Machtfragen in der Erziehung. Das Buch ist eine Absage an eine Erziehungs(un)kultur, die aus Kindern Schlaraffenland-Kinder, aus Jugendlichen und Erwachsenen Schlaraffenland-Geschädigte gemacht hat und macht. Es richtet sich gegen eine Erziehung, die beiträgt zu einem gesellschaftlichen Klima überzogener Anspruchshaltungen, von Egoismus, Konsumorientierung, Passivität und der Unfähigkeit, tragbare Beziehungen einzugehen.Ohne "trendy" zu sein, liegt Wyrwas Buch im Trend jener neueren Erziehungsliteratur, die wiederum vermehrt auf Wertevermittlung im Umgang mit Heranwachsenden setzt. - Ein Beitrag für Eltern, Kinder aus einer anderen Perspektive zu sehen und damit Wurzeln für positive soziale Entwicklungen zu fördern anstatt das Fundament für Egoismus und Bequemlichkeit in ihren Kindern zu legen.

Der Autor ist Kinderpsychologe und Psychotherapeut in Innsbruck.

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