Die Illusion von menschlicher Perfektion

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Wieder einmal hat ein Atomunfall Schlagzeilen gemacht. Durch die Wahlen von den Titelseiten verdrängt, verdient das Ereignis dennoch eine weitere Reflexion.

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Wieder einmal hat ein Atomunfall Schlagzeilen gemacht. Durch die Wahlen von den Titelseiten verdrängt, verdient das Ereignis dennoch eine weitere Reflexion.

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Tokaimura, vergangenen Donnerstag (Ortszeit): Es kommt zum bisher schwersten Störfall in der Geschichte der japanischen Atomindustrie. Rund 50 Personen werden verstrahlt, drei davon schwer. Zwei von ihnen ringen mit dem Tod. Sie sollen ähnlich hohe Dosen Radioaktivität abbekommen haben wie die Helfer beim Reaktorunfall in Tschernobyl. 150 Personen mußten aus ihren Wohnstätten evakuiert werden, 300.000 wurden angewiesen, ihre Wohnungen nicht zu verlassen, Fenster und Türen dichtzumachen. Mittlerweile wurden diese Vorsichtsmaßnahmen wieder aufgehoben.

Wie war es zu dem Unfall gekommen? Einer der verstrahlten Mitarbeiter gab zu, man habe sich schlicht und einfach beeilen wollen und 16 Kilogramm Uran, etwa das Achtfache der erlaubten Menge, in einen Tank gefüllt und dabei einen vorgeschriebenen Arbeitsschritt ausgelassen. Er habe nicht gewußt, was das bedeute, wird der Arbeiter zitiert. Die Folge: Eine Kettenreaktion trat ein. 20 Stunden lang war sie im Gang. Direkt am Unfallsort trat eine enorme Strahlenbelastung auf: 10.000mal höher als der Normalwert.

Gott sei Dank gelang es, der Situation Herr zu werden. So schlimm der Unfall auch war, er ist weit davon entfernt, eine Katastrophe vom Ausmaß des Unfalls von Tschernobyl zu sein, sehr weit. Und dennoch: Das Ereignis kann gar nicht ernst genug genommen werden. Denn wieder einmal zeigen sich die typischen Muster solcher Unfälle: Da ist zunächst die Ratlosigkeit der Verantwortlichen. Auf diese Weise gerät das Geschehen außer Kontrolle. Alsbald fehlt der Überblick über das, was am Unfallort vor sich geht, weil man die Menschen in Sicherheit bringen muß, es aber an Robotern mangelt, die gefahrlos die benötigten Informationen sammeln könnten.

Und noch etwas: Wieder einmal werden Bewohner der Umgebung und die Behörden zu spät alarmiert. Letztere reagieren eher verwirrt, schicken Hilfskräfte, die überfordert sind. Plötzlich stellt man fest, daß es keinen Katastrophenplan gibt. Und dabei handelt es sich nicht einmal um den ersten Unfall in Tokaimura. Schon 1995 gab es eine schwere Panne beim "Schnellen Brüter", der dort versuchsweise betrieben wurde, und 1997 einen Unfall in der Wiederaufbereitungsanlage desselben Betreibers. Damals wurden immerhin 37 Arbeiter verstrahlt.

Nun, die japanische Regierung räumt jetzt ein, daß es zu Versäumnissen gekommen sei, die für eine Industrienation beschämend seien. Auch mußte der Betreiber zugeben, eine Verfahrensvorschrift ohne amtliche Genehmigung geändert zu haben. Sind all diese Pannen nichts Anderes als unerwartete Mißstände im Fernen Osten?

Keineswegs: Erst kürzlich wurde die "Northeast Nuclear Energy Company" von einem Strafgericht im US-Bundesstaat Connecticut zur Zahlung einer Strafe von zehn Millionen Dollar (rund 120 Millionen Schilling) verurteilt ("Le Figaro" vom 30. September 1999). Die Anklage warf dem Unternehmen Vergehen in 23 Punkten vor. Alle begangen im Zeitraum zwischen 1994 und 1996. Der Vorwurf: Ablassen verbotener Mengen von Hydrazin, einer giftigen Chemikalie, ins Meer, betrügerische Messungen, mangelnde Qualifikation wichtiger Mitarbeiter, von denen der Ankläger annahm, sie würden bei einem Unfall nicht angemessen reagieren ... Die Betreiberfirma bekannte sich in dem Verfahren übrigens schuldig.

Damit sei nicht behauptet, alle Atomkraftwerke seien nicht auf der Höhe der Sicherheitsstandards - die übrigens in den letzten 15 Jahren beachtlich verbessert wurden - und sie seien alle von minderqualifizierten Mitarbeitern betreut. Aber sowohl am Beispiel des US-Unternehmens wie an dem Unfall in Tokaimura wird offenkundig, daß es solche minderqualifizierte Mitarbeiter gibt. Ein Phänomen, vor dem übrigens der österreichische Reaktorexperte Wolfgang Kromp schon vor einem Jahr gewarnt hatte. Er verwies damals darauf, daß es immer weniger universitären Nachwuchs für den Sektor Atomkraftwerke gebe und man an "Schnellsiedekurse" denke (Furche 12/1998).

Gerade die Atomtechnologie ist aber auf höchste Perfektion angewiesen. "Es darf in der Kernenergie keine Routine einkehren," stellt beispielsweise Professor Adolf Birkhofer, Chef der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, fest. "Den betroffenen Menschen muß in regelmäßigem Training immer wieder erklärt werden, warum sie etwas tun sollen. Es reicht eben nicht, nur Vorschriften abzuarbeiten." (Der Spiegel 40/1999) So lobenswert solche Bemühungen sind, so sehr muß aber auch dem Umstand Rechnung getragen werden, daß Menschen nun einmal nicht perfekt "funktionieren".

Das ist die Not von Technologien, die eigentlich auf perfekte Menschen angewiesen sind, daß sie Anforderungen an ihre Mitarbeiter stellen, die unrealistisch sind. Sie erfordern hundertprozentige Aufmerksamkeit, im Krisenfall absolute Kaltblütigkeit und Fähigkeit, alles, was in dieser Situation gerade nottäte, auch geistig präsent zu haben, sie erfordern vollkommene Selbstlosigkeit im Zugeben von Fehlern und die Bereitschaft, sofort Hilfe anzunehmen, und, und, und ...

Weil es solche Menschen so gut wie nicht gibt, ist es ein Gebot der Vernunft, Techniken, die solche Perfektion erfordern (weil ihre Versagen furchtbar katastrophenträchtig ist), gar nicht erst einzusetzen, beziehungsweise, sie so schnell wie möglich, aus dem Verkehr zu ziehen - umso mehr als sie sich längst als wirtschaftlich unrentabel erweisen.

Eigentlich hätten die politisch Verantwortlichen diese Lektion längst lernen können. Schon im Endbericht nach dem ersten schweren Reaktorunfall in Three Mile Island (USA) 1979 hieß es im Sondervotum des Kommissionsmitgliedes Russell Peterson: "Ich möchte meine - durch diese Untersuchung neuerlich sehr bestärkte - Meinung zum Ausdruck bringen, daß die Komplexität eines Atomreaktors - zusammen mit dem normalen menschlichen Fehlleistungen - zu weitaus schwerwiegenderen Unfällen führen wird, irgendwo, irgendwann." In Tschernobyl wurde diese Prognose 1986 bestätigt.

Sie bleibt gültig. Der Unfall in Japan ist ein weiteres Glied in der Kette der Belege für diese Tatsache.

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