Die im Dunkeln sieht man nicht

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Wien ist anders, besonders am nächtlichen Karlsplatz oder Praterstern. Dreimal wöchentlich besucht ein "Nacht-Streetwork" dort Menschen ohne Heim.

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Wien ist anders, besonders am nächtlichen Karlsplatz oder Praterstern. Dreimal wöchentlich besucht ein "Nacht-Streetwork" dort Menschen ohne Heim.

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In der Gruft herrscht Spiellaune. Zwei Schnapser tricksen um die Wette. Ihre Minen sind ernst, denn beim Karteln hört sich der Spaß auf. Ein Alleinunterhalter am Nebentisch spielt mit der Phantasie und vertieft sich in ein Buch. Auch der Koch spielt vor dem Abendessen noch schnell mit seiner Zigarette und lehnt sich entspannt an die Abwasch.

17 Uhr: Unsere nächtliche Tour nimmt in der "Gruft" ihren Anfang. Das Gewölbe unter der Mariahilferkirche im sechsten Wiener Gemeindebezirk bietet Obdachlosen eine kurzfristige Heimstatt: Hier finden sie bei Bedarf Kleidung und einen warmen Platz zum Schlafen, Essen und Duschen. 14 hauptamtliche Angestellte der Wiener Caritas, darunter vier Sozialarbeiter, kümmern sich gemeinsam mit Zivildienern, Praktikanten und Freiwilligen um das Wohl der umtriebigen Gäste.

"Die Zeiten sind härter geworden", weiß der Leiter der Gruft, Frater Carl Gölles. Neue Bahnhöfe werden "kundenfreundlich" und da würden Obdachlose stören. Das größte Problem sei aber die Dunkelziffer: "Die auf der Straße auffallen sind die Minderheit. Die Masse erkennt man nicht, denn man will ja dazugehören."

Unterm Flakturm 17 Uhr 15: Die Zeit drängt. Susi schnappt sich noch schnell ihr Diktiergerät und zwei Päckchen "Memphis". Susanne Peter heiße sie eigentlich, aber als Sozialarbeiterin werde man, "wenn's passt", gern geduzt. Der erste Weg führt uns zu Fuß hinunter in den Esterhazypark. Auf einer Bank sitzt ein junges Pärchen und nippt an Halbliterdosen Gambrinusbier. Hinter ihnen eine mit Plastikplanen notdürftig abgedeckte Schlafstatt.

Sie könne sich nicht beklagen, meint die 34jährige Isi und fährt sich durch das blondierte Haar. Immerhin wohnt sie nach sechs Jahren auf der Straße mit ihrem Oskar in einer Sozialwohnung. Trotzdem zieht es sie immer noch hierher, neben den Flakturm und die öffentliche Toilettenanlage, "wo's im Winter so kalt ist, dass du's nicht aushältst." Damals, ja, da sei sie schon oft in der Gruft gewesen. Doch bei ihrem momentanen Pegel hätte sie wohl Gruftverbot, schätzt Isi und nimmt einen Schluck. Die Regel lautet ja: "Wer sichtbar zu ist, muss gehen." Für ein Foto, nein, dafür sei sie nicht zu haben, da könnte sie ihre Oma erkennen, bei der sie aufgewachsen ist. "Die weiß ja gar nichts davon."

Im Esterhazypark kommt Wind auf. Blätter und Zigarettenstummel wirbeln herum, erste Tropfen fallen. Es wird Zeit aufzubrechen, Susis andere Klienten warten. Auf dem Weg zurück in die Gruft spricht sie einige Schlagwörter ins Diktiergerät - für's Protokoll. Unterwegs treffen wir einen alten Bekannten: Franz. Er glaubt, dass ihn die Polizei sucht. Warum, weiß er selber nicht. Franz kann sich auf die Diskretion der Sozialarbeiter verlassen: "Bei uns sind die Leute anonym", stellt Susi klar. "Wenn aber die Polizei zu uns kommt und ihn sucht, wird er verhaftet."

Bescheidener Anfang 18 Uhr 30. Pfarrhof Mariahilf. Säcke voll Secondhand-Kleidung und alten Zeitschriften landen im Fond des roten Opel Astra. Die Polsterung riecht nach Vergangenheit. Da hilft nur Fahrtwind, wirft Susi ein und steigt aufs Gas. Seit 1986 sei sie bei der Gruft, von Anfang an, erzählt die 30jährige Sozialarbeiterin. Zuerst als Schülerin beim Austeilen von Schmalzbroten und Tee, dann als fixe Angestellte. Irgendwann hätten die Schmalzbrote nicht mehr ausgereicht. So wurde die Gruft 1994 zum Tageszentrum, mit Öffnungszeiten rund um die Uhr und einem "Nacht-Streetwork" dreimal die Woche. Einmal wöchentlich schaut auch Susi mit einem freiwilligen Helfer bei ihren 30 Klienten vorbei: Sie fragt nach dem Befinden, bietet Unterstützung an für Behördengänge und spielt in medizinischen Notfällen auch Taxi in die Gruft. Die Gespräche werden protokolliert - um "dranzubleiben".

18 Uhr 55. In der Schnellbahnhalle am Praterstern herrscht rege Geschäftigkeit. Abseits vom Gewimmel haben sich ein paar Männer zusammengetan. Ein Doppler macht die Runde, am Boden kullern kleine Fläschchen Magenbitter. Die Stimmung ist ausgelassen. Josef, ein Charmeur, teilt Handibussis aus. Harry drängt ihn unsanft zur Seite. Drei Kinder habe er, "alle Giftler und im G'fängnis". Überhaupt seien Drogen das Letzte: "I sauf, i stü, i brich ein, oba Gift nimm i kans." Hinter ihm grinst Fiaker-Fritzl. Mit dem Zilk und der Dagi sei er in Japan gewesen, erklärt er ehrfürchtig und streicht sich über den Kaiser-Franz-Josef-Bart.

Abseits der angeheiterten Truppe, draußen vor der Halle sitzt Leopold mit einer Dose Bier. Leopold ist Pendler: am Wochenende heim ins Waldviertel zu seiner Frau und den beiden Kindern, zu Wochenbeginn nachWien als Leiharbeiter, ohne Unterkunft. Für die ganze Familie habe er in Wien einfach keine Wohnung gefunden, die er sich leisten könne. Im Waldviertel sei er jedoch, mit Hilfe des Staates, fündig geworden. Auch wenn er unter freiem Himmel schläft - "arbeiten muss man, sonst kommt man mit den Kindern nicht durch."

Zurück in der Halle treffen wir alte Bekannte. Während Leo glücklich ist mit seinem Bier, ist bei Hans Handeln angesagt. Susi kann ihn ungewohnt schnell überreden, mitzukommen in die Gruft. Neue Schuhe brauche er, jammert er auf dem Weg zum Wagen, von den Filzschlapfen löse sich die Sohle. Auch Unterwäsche und eine Hose und so. Und die Schmutzinfektion an Händen und Beinen gehöre wieder mal angeschaut. Seit zwei Monaten habe er sich nicht mehr geduscht, gesteht er auf der Fahrt. Die Luft ihm Opel gibt ihm recht. Eine Melange aus Eiter, Moder und Urin krallt sich in die Nase. Hans stinktwie die Pest. "Ma, gfrei i mi auf deDuschn", meint er und entlockt Susi ein gequältes Schmunzeln.

20 Uhr 20. In der Gruft riecht es nach Gulasch. Auf den Tischen wird kräftig zugelangt, zwei ausgemergelte Mädchen hocken auf einer Treppe und löffeln aus dem Suppenteller. Herbert erkundigt sich bei Susi nach dem nächsten Fußballtraining der Gruftianer. "Das Match in München haben sie leider abgesagt", klagt Susi, zeitweilige Torfrau und Trainerin der Mannschaft. Beim Fußballspiel sei der alkoholkranke Herbert endgültig aufgetaut, ist sie stolz. Zur selben Zeit wird Hans im Duschraum unter die Brause gestellt und entlaust. Erst dann kümmert sich ein Arzt im "Louise-Bus" vor der Gruft um seine Wunden.

Ausrangiert Wir müssen zurück zum Praterstern, zu Leo. Während unserer Abwesenheit hat er einiges über den Durst getrunken: 17 Bier seien es heute gewesen, schätzt er. Mit kleinen Erinnerungslücken dirigiert er den Opel zu sich nach "Hause". Am Parkplatz des Ernst-Happel-Stadions heißt es aussteigen, zu Leo kommt man nur zu Fuß. Im Schein der Straßenlaterne lotst er uns Richtung Sektor E. Vor einem Papiercontainer macht er halt: Da drinnen habe er einmal geschlafen. Doch diese Zeiten sind vorbei, meint er stolz, quetscht sich durch eine Lücke in der Gitterabsperrung und tritt uns voraus ins Schwarz des Trainingsplatzes. Ungewohnte Stille am sonst so lauten Areal. Aus dem Dunkel taucht ein Fahrzeug auf. Im ausrangierten Transporter hat es sich Leo beinahe gemütlich gemacht: Aus dem Radio tönt Countrymusik, den Boden verkleiden zwei Matten, aufgestapelte Reifen dienen als Ablage. 15 Mal pro Monat arbeite er als Stadionkehrer, meint Leo schlaftrunken und ist auch schon weggedöst. Der Tag war lang.

22 Uhr 30: Stadtpark. Nahe dem Eingang leuchtet eine silbrige Plane. Aus dem Plastik ragt ein blonder Zopf: Maria ist gerade mit ihrer Frauenzeitschrift fertig geworden und freut sich auf Nachschub. Ihr gesamtes Hab und Gut hat sie auf zwei Parkbänken untergebracht. Für die Sozialarbeiterin ist die 38jährige ein besonders tragischer Fall: "Die letzte Sachwalterin hat nicht zu ihren Gunsten gearbeitet." Der Antrag auf eine Sozialwohnung habe einfach zu lang gedauert. Jetzt hat Maria zwar eine Wohnung, aber den Willen verloren, ihre Situation zu ändern. "Man gewöhnt sich an alles", weiß Susi. "Auch an die Ratten."

23 Uhr: Karlsplatz. Endstation. Ein Kolporteur packt seine Ladenhüter ein. Vor einer Auslage mit "Münzen zum Sonderpreis" kauert einer auf ausgebreiteten Zeitungen. Neben ihm hüpft Reini von einem Bein aufs andere. Acht Jahre schon ist der 36jährige auf der Straße. Seit er von den Drogen weg ist, nimmt er Methadon, den fehlenden Kick ersetzt er durch Alkohol. An manchen Tagen trinkt Reini eine Flasche Rum.

Am Durchgang Richtung U4 hat sich Frau Lanz schon für's Schlafen zugedeckt - wir sind spät dran. Auch sie hat eine Wohnung. "Aber dort fühlt sie sich so allein und hat Angst, dass jemand einen Schlüssel hat und hereinkann." Da liegt Frau Lanz lieber am Karlsplatz, zumindest bis zum Winter.

0 Uhr 10: Susi bespricht im Auto ihr Diktiergerät. Jetzt nur noch schnell das Protokoll schreiben, und dann ab nach Hause. Ein typischer Abend sei es gewesen, resümiert sie. Doch nein, "die Maria hat so viel geredet, und der Hans ist mitgefahren in die Gruft". Das war schon außergewöhnlich.

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