Die Kinder von Orlandovzi

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Besuch in einer der illegalen Roma-Siedlungen am Rand der bulgarischen Hauptstadt Sofia, wo Roma mit Bulgaren Tür an Tür wohnen.

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Besuch in einer der illegalen Roma-Siedlungen am Rand der bulgarischen Hauptstadt Sofia, wo Roma mit Bulgaren Tür an Tür wohnen.

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Das Roma-Viertel Orlandovzi liegt am nördlichen Stadtrand der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Die soziale Differenzierung der Einwohner lässt sich an der Qualität der Behausung ablesen. Bessergestellte leben in Einfamilienhäusern, die einmal bessere Zeiten gesehen haben mögen und zum Teil als Villen durchgegangen sein dürften. Die ganz Elenden hausen in schäbigen Hütten, zusammengezimmert aus Brettern und Teilen, die offenbar von der Müllhalde stammen. Dazwischen gibt es eine Kategorie einfacher Ziegelbauten, die zumindest wetterfest scheinen.

Hier wohnt Anka mit ihrer Familie. Die 43-jährige Frau mit dem schlechten Gebiss sieht aus, als wäre sie die Großmutter der eigenen Kinder. Der einzige Wohnraum ist mit einem Ehebett und einem an dessen Fußende plazierten Einzelbett fast vollständig gefüllt. Eine Kommode mit leerer Vitrine ist das einzige zusätzliche Möbelstück. Darauf steht die Bibliothek, die aus einer Bibel und einer illustrierten Kinderbibel besteht. Auf dem alten Fernsehgerät in der Ecke stehen auf einer Häkeldecke drei Shampooflaschen, als wä ren es Nippes-Figuren. Auf einem Kanonenofen simmert ein Blechkübel mit Wasser. Das Wasser muss in Zehnliterflaschen, von denen mehrere am Boden stehen, herbeigeschafft werden. "Vom Bruder", sagt Anka, die ihre fünfjährige Tochter Temenuschka streichelt. Der Stromanschluss ist wie in den meisten Häusern der Siedlung illegal.

Temenuschka lacht gern und spielt mit dem schwarzen Welpen. Es ist selbstverständlich, dass sie dabei hilft, Brennholz für den Ofen herbeizuschaffen. In den Kindergarten geht sie nicht. "Sie bekommt epileptische Anfälle", sagt Anka zur Entschuldigung. Ob sie ihre Tochter zum Unterricht schicken wird, wenn sie ins schulpflichtige Alter kommt, ist noch nicht klar. Anka selbst kann nicht lesen obwohl sie vier Klassen Volksschule hinter sich hat. Laut Statistik sind 70 Prozent der Roma in Bulgarien Analphabeten. Unter den Frauen liegt der Prozentsatz noch höher. Temenuschka weiß noch nichts von der Welt außerhalb ihres Viertels. Trotzdem hat sie Pläne für die Zukunft. Sie will einmal Lehrerin werden. Ohne es zu wissen, trägt sie Mitschuld daran, dass ihr älterer Bruder Trajan nicht mehr zu Hause wohnt. Als sie zur Welt kam, wurde ihr alle Zuwendung ihrer Mutter zuteil. Für Trajan blieb kaum Zeit. Ein mobiles Team der Concordia Privatstiftung fand ihn im Zustand der Verwahrlosung. Seither ist er im Wohnheim der Concordia untergebracht und geht regelmäßig in die Schule. Der Achtjährige fühlt sich sichtlich wohl in dem Heim, wo er mit Gleichaltrigen spielen kann und für kleine Verrichtungen wie Bettenmachen oder Zimmer sauber halten Punkte bekommt, die Geldes wert sind. Im hauseigenen Laden bekommt man für Punkte Süßigkeiten, Kleidungsstücke oder Spielzeug. Er spielt begeistert Fußball und erinnert sich gern an eine Reise nach Österreich. Besonders das Riesenrad und die Geisterbahn im Prater sind ihm in lebhafter Erinnerung. Seine Mutter, die die Kontrolle über das Leben des Buben nicht aufgeben will, kommt ihn unregelmäßig aber immer wieder besuchen. Am Wochenende schläft er zu Hause.

Das Zusammenleben zwischen Roma und ethnischen Bulgaren ist oft schwierig. Die Siedlung Orlandovzi liegt vor einem großen Plattenbau, der von Bulgaren bewohnt wird. Erst kürzlich kam es zwischen den beiden Gruppen aus einem nichtigen Anlass zu einer Massenschlägerei. "Wir sind kein rassistisches Land", sagt Mina Vladimirova, die Leiterin des Sozialreferats in der Sofioter Statdtgemeinde.

Allerdings seien "Unterschiede in der Lebensweise oft ein Anlass für Spannungen". Vladirmirova setzt auf die Zusammenarbeit mit NGOs. Vor allem über die Concordia-Stiftung, die Menschen in prekären Wohnverhältnissen unterstützt, äußert sie sich in höchsten Tönen. Concordia ist in mehreren Roma-Siedlungen, sogenannten Mahalas, tätig und wird dafür sorgen, dass Temenuschka, so wie ihr älterer Bruder Trajan, eine Chance bekommt. (rl)

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