Die Leiden der alleingelassenen Eltern

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Rund zwei Jahrzehnte leben Eltern und Kinder normalerweise unter einem Dach. Wenn die Kinder dann aus dem Haus gehen, schauen die Eltern meist auf einen langen, entscheidenden Lebensabschnitt zurück, Söhne und Töchter auf ihr gesamtes bisheriges Leben. Oft ist die Phase, in der sich die jüngere von der älteren Generation löst, innerlich und den äußeren Lebensumständen nach, in vielen Familien begleitet von heftigen Auseinandersetzungen, von Verständnislosigkeit, Streit, Kränkungen, Zorn und Traurigkeit.

Der Auszug des oder der Kinder gleicht nicht selten einer Flucht, oft geht ihm auch ein großer Krach voraus, beides sind Hinweise darauf, wie schwer es auch für Söhne und Töchter sein kann, sich auf den eigenen Lebensweg aufzumachen. Es ist auch deshalb schwer für sie, weil sie mit Schuldgefühlen fertig werden müssen, die ihre Wurzeln in dem Gefühl haben, daß die Eltern allein gelassen oder von ihnen vielleicht auch in Trauer gestürzt werden.

Die Literatur hält reichlich Entwicklungsgeschichten bereit, die den schmerzlichen Weg hin zur eigenen Identität des Jugendlichen schildern. Ob ihre Helden "Werther" oder "Törless" heißen, die Leiden der Heranwachsenden stehen meist im Vordergrund, nicht aber die der zurückgelassenen Eltern. Ihre Situation war und ist kein beliebter Romanstoff, sie stößt auch in Gesprächen außerhalb der Familien auf wenig Interesse.

Es scheint, als ob wir Eltern nicht zugeben dürften, daß es uns schwerfällt, unsere Kinder loszulassen. Es ist fast so, als lebe der Großteil der Eltern mit der gesellschaftlichen Erwartung, diese wirklich nicht leichte Phase im Leben ganz großartig und reibungslos abwickeln zu können.

Typische "Elterndienste" wie Wäschewaschen oder Bekochen bleiben oft noch nach dem Auszug der Kinder eine Versorgungsleistung, die viele Eltern aufrechterhalten, um zumindest in der ersten Zeit nach der räumlichen Trennung einen möglichst regelmäßigen Kontakt zum Nachwuchs zu behalten. Diese Dinge können für alle Beteiligten ein vertrautes, geschätztes und gewissermaßen auch tröstliches Festhalten an alten Ritualen darstellen. Die Psychologie spricht von "Übergangsobjekten", die es auch dem Kind erleichtern, alleine zu sein.

Loslassen können Für viele Elternpaare dauert es lange, bis sie sich in den vielen kleinen Dingen des Alltags daran gewöhnt haben, jetzt ohne Kinder zu leben. Es dauert oft Jahre, bis die Zimmer, in denen Kinder gewohnt haben, von den Eltern selbst genutzt werden.

Trauer ist bei sehr vielen Eltern das zentrale Gefühl, wenn die Kinder aus dem Haus gehen. Eltern gestehen sich aber Trauer, diese natürliche und auch notwendige Reaktion auf Verluste, nur sehr selten zu. Sie fürchten, als "Klammereltern" dazustehen, die ihre Kinder nicht "loslassen können," wie es so schön heißt. Sie fürchten, daß ihre Trauer den Kindern das Weggehen schwer oder das Wiederkommen unmöglich macht. Es ist aber zweierlei, sich Gefühle zu erlauben, darüber zu sprechen oder aus ihnen einen Klotz am Bein der fortstrebenden Kinder zu machen.

Die Trauer der Eltern hat ja schon viel früher begonnen. Viele spüren bei jedem Entwicklungsschritt der Kinder, neben der Freude über diesen, auch ein bißchen Traurigkeit, wenn das Kind zum Beispiel zum erstenmal anderswo übernachtet, zum erstenmal ohne die Eltern verreist, sich zum erstenmal verliebt.

Kinder haben in das Leben ihrer Eltern Struktur gebracht. Je kleiner sie waren, umso unausweichlicher war der von ihren Bedürfnissen bestimmte Tagesablauf. Die Freiheiten der Eltern wurden eingeschränkt, dafür gab es weitgehende Verpflichtungen und eine Vielzahl von alltäglichen Pflichten. Zeit blieb wenig.

Mütter werden im Alltagsleben stark in die Pflicht genommen, besonders die hauptberuflichen, die immer wieder mit dem Gefühl zurecht kommen müssen, wie ein Hamster im Rad ohne Pause in Bewegung zu sein, von den Bedürfnissen der Kinder "überschwemmt" zu werden, und für ihre Sisyphusarbeit wenig bis gar keine Anerkennung zu bekommen.

Sind die Kinder aus dem Haus, gehört den Eltern ihre Zeit wieder weitgehend allein. Vielen Menschen fällt es jedoch schwer, ihre Zeit unabhängig von äußeren Anforderungen zu strukturieren. Davon entheben einen die Kinder.

Und jene Eltern, die wenig Möglichkeit sehen, ihre Zeit sinnvoll zu nutzen, können besonders bemüht sein, einen Teil der Alltagspflichten für ihre Kinder zu behalten oder für ihre Enkel zu erringen.

Alle Eltern haben nach dem Fortgehen ihrer Kinder mit der großen Umstellung zu tun, Gewohnheiten und Rituale, die im Zusammenleben mit ihren Kindern entstanden sind, auf ihre weitere Tauglichkeit hin zu überprüfen, zum Teil aufzugeben oder durch neue zu ersetzen.

Nach dieser Phase der Umstrukturierung, die neben dem Abschiedsschmerz große seelische Verunsicherung beinhalten und auch einige Jahre dauern kann, spüren sie auch, wie erleichternd es sein kann, die Last der Verantwortung abzugeben. A. T.

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