DIE LIEBE ZU DEN MODELLEN

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Tragödien durchbrechen die Aufräumarbeiten eines Wohnungswechslers, takten seine Zeit.

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Tragödien durchbrechen die Aufräumarbeiten eines Wohnungswechslers, takten seine Zeit.

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Ein Mann nimmt Abschied. Er räumt die Wohnung, bevor zwei Beamte der Magistratsabteilung Soziales Wohnen die leeren Zimmer übernehmen. Das ist Grund genug, sich hineinfallen zu lassen in eine Zeit, die mit dem Wohnungswechsel unwiederbringlich vorbei ist. Erinnerungen tauchen auf, ein altes Kinderbuch mit Geschichten für jeden Tag eines Jahres legt eine Spur in die eigene Vergangenheit, und Nachrichten aus alter Zeit, reichlich abgestandene Wahrheiten, kommen noch einmal ans Licht. Vielleicht verschwinden sie jetzt, da der Erzähler so gründlich die Reste eines abgestandenen Lebens entsorgt, endgültig ins Nirgendwo, weil die Zukunft alle Energien beansprucht. Doch nichts davon ist wahr, die zu Beginn ausgelegte Fährte führt in die Irre.

Unter dem Namen Harald Darer müssen wir einen Liebhaber des Schrägen und Verdrehten in die Annalen der österreichischen Literatur einfügen. In seinem dritten Buch erweist er sich als einer, der skurrile Geschichten liebt und sich für jede einen eigenen sprachlichen Zugang sucht. Er geht vor als Anpassungsgigant an jeweils wechselnde seelische Zustände, soziale Verhältnisse und durch Milieus bestimmte Mentalitäten. Er sucht einen Ton, der nur für diese eine Episode im Leben Gültigkeit hat. Deshalb diese Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit der Erzählhaltung. Der Erzähler unternimmt den Versuch, uns lauter schlimme Sachen zu erzählen, eine Tragödie nach der anderen drückt er uns rein, und jedes Mal bringt er uns zum Erschrecken über die Grausamkeit, wie das Leben so spielt und wie sich Menschen mit anderen Menschen spielen. Ein Mädchen stirbt in Afrika, weil es versehentlich aus einem Kanister Benzin trinkt. Ein Häftling traktiert seine Mutter, verunstaltet in einem rohen Gewaltexzess ihr Gesicht. Von einem mitleidenden Erzähler keine Spur. Er registriert, was geschieht, so sieht es eben aus unter den Menschen, da ist nichts zu machen, diese Spezies ist von Grund auf verdorben.

Diese Unglücksgeschichten, als Tragödien bezeichnet sie der Erzähler, durchbrechen die Aufräumarbeiten des Wohnungswechslers, takten seine Zeit. Er lässt sich reinfallen in diese Fallbeispiele menschlichen Leidens, und alle haben sie mit ihm zu tun. Er war als Zeuge dabei, sie wurden ihm zugetragen, er hat sie aus den Medien und dem Geschichtenbuch, und wer weiß, was nicht alles einfach erfunden wurde. Die Fantasie ist ein prächtiges Gefährt, der Falle der Langeweile zu entgehen, sie ist stets einsatzbereit, auf Abruf verfügbar.

Postmoderne Ästhetik

Erfreulich geht es nie zu, was aber nicht automatisch bedeutet, dass wir es nur mit niederschmetternden Ereignissen zu tun bekommen. Der Erzähler wägt ab, wie er mit den einzelnen Geschichten zu verfahren hat. In kleinen Tragödien stecken immer wieder Heiterkeitskerne, aus denen Ironie und Satire wachsen. Eine Kuh attackiert einen Wanderer und verletzt ihn. Das ist schlimm, keine Frage, darüber zu scherzen wäre fehl am Platz. Über den Unfall selbst verbietet sich demnach der Erzähler, Spott und Hohn zu verbreiten. Er schaut sich lieber an, was die Medien daraus machen und kommt zu einer Komödie der Unwissenheit und Sensationslust.

Darer ist mit den Wassern der postmodernen Ästhetik gewaschen. Als Verwandlungskünstler macht er ausgesprochen gute Figur, und wie einem richtigen Zauberer ist ihm weniger an der gründlichen Durchdringung der Wirklichkeit gelegen, lieber ist ihm auszuprobieren, was Sprache und Form vermögen, wenn sie einen Stoff zu bearbeiten angehalten sind. Mit einem Abbildrealismus oder der klassischen Wiederspiegelung von Wirklichkeit, die beide recht hoch im Kurs stehen, hat Darers Literatur nichts zu tun. Er greift zurück auf literarische Modelle, strapaziert vorsätzlich ihre Tauglichkeit, um sie auf ihre widersetzliche Qualität hin zu überprüfen. Märchen treibt er ihre moralische Begeisterung aus, treibt sie zu aberwitzigen Nonsens-Geschichten, in denen ihrer Neigung, der Unvernunft das Wort zu reden, in gesteigertem Maße nachgekommen wird.

Betreten wir Harald Darers Reich, gelangen wir in Kopfwelten. Seine Literatur ist ein strategisch angelegtes Fälschungsunterfangen. Wirklichkeit ist gut und schön, aber solange sich Philosophen, Physiker und Hirnforscher nicht einig werden, was sie eigentlich sein soll, hat ein Autor vom Schlage Darers noch jedes Recht, sich kurzerhand eine auf Zeit zu erdenken. Das hat etwas salopp Spielerisches ebenso wie etwas hintersinnig Ernsthaftes.

Der Erzähler verfolgt die Absicht, den Ort, den er verlässt, aus seinem Bewusstsein zu tilgen. "Alle Spuren verwischt, die Wurzeln herausgerissen." Wenn er die neue Wohnung mit Frau und Kind bezieht, soll er ein Neuer sein. Das bisherige Leben, eine Altlast, die Vergangenheit, lästiger Sondermüll. Und dann kommt alles ganz anders. Viel scheint der Ortswechsel nicht zu bringen. Das neue Leben droht zum Wiedergänger des alten zu werden. Das Haus gegenüber erinnert an den früheren Blick. "Ungefähr in der Mitte ist ein Fenster geöffnet. Ich sehe wie einer, am Fensterbrett lehnend, eine Zigarette raucht und den Rauch aus dem Fenster in die Luft bläst".

Die Fantasie als Räuberin

Diese Szene begleitete den Erzähler jahrelang tagein, tagaus. Es scheint so, als ob sich nichts verändern wollte - ein trauriges Bild der Vergeblichkeit. Und dann auch noch der Kommentar der Frau: "Hier werden wir uns bald wie zu Hause fühlen." Das "wie" ist die verräterische Instanz. Es macht einen Unterschied, ob man sich zu Hause fühlt oder doch nur wie zu Hause. Flucht ist nicht möglich, der Einzelne bleibt eingesponnen im Immergleichen. Gut, dass es die Fantasie gibt, die Räuberin des Dauerzustands der Lethargie.

Schnitzeltragödie

Roman von Harald Darer P

icus 2016 230 S., geb., € 20,-

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