Die Lust an den kleinen Betrügereien

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Einer der stärksten kulturschaffenden Antriebe der Menschen ist die Angst. "In Ängsten findet manches statt, was sonst nicht stattgefunden hat!" dichtete Wilhelm Busch.

Vom Angsttrieb profitieren Religionen und Kirchen, ganze Industrien zur Erzeugung angstreduzierender Objekte (von der Autoindustrie über Kinopaläste bis zur Produktion von Alkoholika, um nur einige Beispiele zu nennen) sowie natürlich auch und vor allem die Versicherungsindustrie.

Gibt es Schöneres, als in der Gewissheit, gegen sämtliche Unbilden des Schicksals versichert zu sein, am Abend beim Kamin wohlig die Beine auszustrecken? Wäre das nicht ein paradiesischer Zustand?

Nun ist das Paradies aber eine menschliche Erfindung auf spirituell-geistiger Ebene. Das Paradies wird daher kaum für einen derart materiellen Wunsch, wie es eine "Versicherung" gegen das Schicksal wäre, zuständig sein.

Eher reden wir dabei wohl vom Schlaraffenland, das im Gegensatz zum Paradies ein plebejischer Traum der Kleinbürger ist, wie es der österreichische Schriftsteller György Sebestyen formulierte. Der typische Kleinbürger aber hat ein Spezialmerkmal: Er nimmt es mit der Moral bis zur Verbissenheit genau - solange er sich beobachtet glaubt. Wähnt er sich jedoch allein und sanktionsfrei, kommt eine mitunter erstaunliche Prinzipienlosigkeit zum Vorschein. Und solch ein kleiner Kleinbürger steckt wohl in jedem Menschen, angefangen vom ersten Menschen, Adam, der sich sogar vor Gott "versteckt".

Und hier, genau hier liegt ein Grund dafür, dass der Traum von der grenzenlosen Versicherung für alle und für jedes ein Traum bleiben muss.

"Moral hazard" nennt man diesen Grund, "moralisches Risiko".

Profit durch Autodiebe Man kann es täglich im Straßenverkehr beobachten, wie wenige Menschen es mit der Moral genau nehmen, wenn es drauf ankäme: Da wird fahrergeflüchtet, es werden Absprachen getroffen, wie man die Versicherung am besten linken kann, da vereinbaren sich sogar Tag für Tag durchschnittlich sechs Österreicher mit Autodieben, um ihren Wagen im Ausland stehlen zu lassen und daraus Profit zu schlagen.

"Moral hazard" ist ein fixer Faktor in der Kalkulation, ob Versicherungsverträge realistisch und finanzierbar sind. "Wegen moral hazard verbieten sich manche Versicherungsformen quasi von selbst, obwohl man eigentlich meinen sollte, dass sie in der gegenwärtigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lage ein Hit sein sollten, wie etwa Versicherung gegen Arbeitslosigkeit", meint der Versicherungswissenschafter Michael Theil von der Wirtschafts-Uni Wien.

"Anders gesagt bedeutet das, dass jede Versicherung irgendeine Form der Zufälligkeit braucht. Der Faktor Schicksal muss eine Rolle spielen. Ist das nicht der Fall, sind die Risken allzu einseitig verteilt. Im Fall einer Versicherung gegen Arbeitslosigkeit müsste man daher sicherstellen, dass aus dem Versicherungsnehmer nicht ein Versicherungsausnehmer wird. Das wäre der Fall, wenn der Versicherte sich nicht gerade reißend darum bemüht, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Man kann natürlich gegen ein Ausnützen der Versicherung Bremsen einbauen - etwa indem man eine lange Wartefrist vorsieht, ab der erst der Versicherungsschutz zu wirken beginnt, zum Beispiel zehn Jahre. Oder man begrenzt die Leistungssumme drastisch. Dann aber ist das Produkt Arbeitslosenversicherung nicht mehr attraktiv für den Kunden. Niemand wird viel Geld in eine Versicherung stecken, wenn er im Versicherungsfall dann mit relativ lächerlichen Summen abgespeist wird."

Die Versicherungen wissen sehr genau, dass den Menschen das Hemd immer näher ist als der Rock. Theil: "Man kennt das aus der Krankenversicherung. Das ist eine Form der Versicherung, die relativ häufig ist, obwohl die Prämien hoch sind. Der Grund ist klar: Nichts ist dem Menschen so wichtig wie seine Gesundheit. Dafür gibt man Unsummen aus. Aber Krankenzusatzversicherungen könnten um etliches billiger sein. Warum sind sie es nicht? Weil (siehe moral hazard!) die Leute Leistungen sehen wollen, die dem entsprechen was sie an Geld hinzulegen bereit sind. Sie verlangen also immer den Primarius, die ,beste' Behandlung, den besten Service. Patienten mit Zusatzversicherung verbrauchen bekannterweise immer wesentlich mehr Behandlungsgeld, ohne dadurch gleichzeitig gesünder zu werden. Sie wollen die Grenzen ihrer Versicherung ausreizen ...!"

Die Versicherer schwanken im öffentlichen Image zwischen Extremen: Einerseits sind sie seit den ersten Anfängen der Assekuranzen jene Institutionen, die für den Einzelnen ein Schutzschild gegen die Schicksalsschläge des Lebens bilden - ein Korrektiv gegen die oft nicht durchschaubare göttliche Fügung und ihre scheinbaren Ungerechtigkeiten. Andererseits gelten sie als Meister der Reduktionskunst bei den Leistungen - aus welchem Grund viele Versicherungsnehmer versuchen, für sich das Beste herauszuschlagen.

Wenn im Übrigen allein die Tatsache, versichert zu sein, zu einem verschlechterten Risikoverhalten führt (man passt nicht mehr so gut auf, weil man sich sicherer fühlt ...), dann ist das eine erstaunliche Veränderung des Verhaltens von Menschen. Ein gewisses Maß an Selbstschädigung wird anscheinend in Kauf genommen, wenn man sicher sein kann, den materiellen Schaden ersetzt zu bekommen. Es wäre eine spannende Frage, wie sich solch ein anderes Risikoverhalten sozial auswirken würde, wenn das Versicherungsprodukt Arbeitslosenversicherung ein weitverbreiteter Erfolg wäre! Wäre mehr Selbstbewusstsein am Arbeitsplatz die Folge? ("Der Chef kann mich mal ... ich bin versichert!") Die Absurdität solch einer Vorstellung macht wohl deutlich, warum es wahrscheinlich nie eine private Arbeitslosenversicherung geben wird.

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