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Die Psychologie und das sittliche Werden des Menschen

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KONFLIKTPSYCHOLOGIE. EINFÜHRUNG UND GRUNDLEGUNG. Von Heinz-Rolf Lückert. Emst- Reinhardt-Verlag, München-Basel. 592 Seiten. - PSYCHOLOGIE UND SITTLICHKEIT. Von Konrad Wolff. Ernst-Klett-Verlag, Stuttgart. 274 Seiten. Preis 15.50 DM. - BEICHTE UND PSYCHOANALYSE. Von Andreas Snoeck SJ. Verlag Josef Knecht, Carolusdruckerei, Frankfurt am Main. 168 Seiten. Preis 6.80 DM. - MEDITATION IN RELIGION UND PSYCHOTHERAPIE. Herausgegeben von Wilhelm Bitter. Ernst-Klett-Verlag, Stuttgart. 371 Seiten, 12 Tafeln. Preis 17.80 DM. — JAHRBUCH FÜR PSYCHOLOGIE UND PSYCHOTHERAPIE. Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben von V. E. Freiherrn v. Gebsattel, P. Christian und W. J. Revers. Verlag Karl Alber, ‘ Freiburg und München. VI/1958, Heft 1 bis 3. 302 Seiten. - SALZBURGER JAHRBUCH FÜR PHILOSOPHIE UND PSYCHOLOGIE. Herausgegeben von den Professoren des Philosophischen Institutes in Salzburg. Verlag Anton Pustet, Munchen-Salzburg-Köln. 11/1958. 240 Seiten

Alle vorliegenden Veröffentlichungen zeigen ein Gemeinsames: sie wollen Beiträge zur theoretischen und praktischen Psychologie liefern, befassen sich dabei mit einem Grenzproblem, das sich nicht in der Psychologie erschöpft, nämlich mit dem Menschen in der sittlichen Konfliktsituation.

Das bemerkenswerte Buch Lückerts hat diese spezifische Situation zum Gegenstand. Vom Menschen als einzigem konfliktträchtigen Wesen ausgehend, kommt der Autor, am Ziel seiner achtunggebietenden Analyse, zum Menschen als einzigem konfliktüberwindenden Wesen. Sein Buch von rund 600 Seiten ist eine wahre Enzyklopädie des Gegenstandes. Nicht dem Verfasser also, sondern gleichsam seinem Thema, dürfen wir jedoch eine einschränkende Bemerkung nicht ersparen: Die Problematik des Konfliktes ist mit rein psychologischer Methodik nicht zu lösen; ihr bleibt auf dieser Ebene eine Dimension verschlossen, die Dimension nämlich der objektiven Werte. Dieser Grenze ist sich der Autor selbst bewußt, aber vielleicht doch nicht jeder seiner Leser. Denn inwiefern kann eine Konfliktpsychologie dem Konflikt vollständig adäquat und gerecht sein? Es besteht zum Beispiel notwendigerweise ein Widerspruch zwischen dem Individuum und der Sozietät, das heißt, eben zwischen dem Menschen und dem, was er selbst stiftet: die Kultur des Menschen ist zum Teil seine Selbstentfremdung. Der Mensch steht daher unvermeidlich im Konflikt mit sich selbst, er ist zwangsweise ein selbstentfremdetes Wesen, und dies ist aus der innenpsychischen Genese allein nicht ganz zu erhellen (vgl. Kap. IX). Die Frage nach Ursachen der Entfremdung und der Verdinglichung wäre hier nach Ansicht des. Referenten zentrcL Sie ist wohl vom Verfasser am Beispiel der Sprache illustriert (S. 351), aber, so will es scheinen, längst nicht bis zur letzten Konsequenz fortgeführt. Die Entwürfe Hegels und des „jungen” Marx sind auf den Seiten 520 f. gestreift, aber eben nur gestreift, weil diese Entwürfe die Grenzen der psychologischen Untersuchung radikal transzendieren. Alles in allem für das Thema „Psychologie und Sittlichkeit” ein grundlegendes Buch.

Das Thema Psychologie und Sittlichkeit wird konkret am Paradigma der Psychotherapie von Konrad Wolff angegangen. Der Autor stellt sich die Aufgabe, das Wesen der Psychotherapie „als sittlicher Prozeß” klar hervorzuheben; ein Unternehmen, das nicht mehr neu ist (in diesem Zusammenhang kann man auf manche bibliographische Lücken hin- weisen), aber noch immer schwierig und problemreich. Die Tiefenpsychologie mündet immer wieder in philosophische und theologische Wertung. Das ist immer so, auch (uneingestanden) im positivistischen Lager, weil die Tiefenpsychologie sich mit dem sittlichen Werden des Menschen befaßt: mit der Rückkehr des Menschen aus der Entfremdung „zu sich selbst”. Es gelingt dem Autor, zu zeigen, daß die Eigenständigkeit der Sittlichkeit auch durch die Tiefenpsychologie anerkannt werden muß. Es wird vielleicht dem Referenten erlaubt sein, zu bekennen, daß er selbst Zeit und Mühe für analoge Beweisführungen aufgewandt hatte; diese persönliche Bemerkung soll lediglich dem Referenten gestatten, folgende Einschränkung vorzubringen, die er der Beschäftigung gerade mit dieser Materie abgewonnen hat: daß nämlich nicht so sehr die Tiefenpsychologie die Rückführung des Sittlichen auf das Triebhafte in einer Querschnittsbetrachtung postuliert, als vielmehr das Neurotische diese Abhängigkeit in der genetischen Perspektive — also in der Längsschnittsbetrachtung — klar erkennen läßt. Dies ist eine nützliche Erkenntnis: nützlich als Impfstoff gegen den latenten Manichäismus unserer Kultur, gegen ihren auf Angst aufgebauten Moralismus; und sie bleibt nützlich, auch wenn sie ‘von manchen Tiefenpsychologen dahingehend mißverstanden wird, daß diese den qualitativen Widerspruch in einer undialektischen Weise auf einen quantitativen Unterschied zu reduzieren versuchen.

In eine noch schwierigere Domäne des Themas hinein will P. Andreas Snoeck SJ. in seiner kleinen Untersuchung eindringen. ln klarer Sprache umreißt der Löwener Moraltheologe den prinzipiellen Unterschied zwischen psychoanalytischer Behandlung und dem Sakrament der Buße. Die Beichte ist in erster Linie Lossprechung von den bewußten Sünden, also gnadenhafte Tilgung der Schuld. Die Psychoanalyse bewegt sich auf einer ganz anderen Ebene, sie ist natürliche Bewußtmachung der unklar gehaltenen Konflikte zum Zwecke der Herbeiführung eben einer bewußten Lösung, der aber ihrerseits sittlicher Wert zukommt. Bei, aller prinzipiellen Klare Ke V’mifet ‘mah’ einen Absatz zur Kritik des kulturgeschichtlichen Hintergrunds (Desakralisierungl), der eine solche Fragestellung und somit die Antwort des Verfassers erst ermöglicht.

In einem langen Anhang zu dem Text Snoecks befaßt sich P. Michael Hollenbach SJ. mit dem Problem der „Schuld und Neurose”. Seine Ausführungen stellen im wesentlichen eine Auseinandersetzung mit dem ausgezeichneten Buch Heinz Hafners, „Schulderleben und Gewissen” (1956), dar. Hollenbach zeigt, daß die moderne Tiefenpsychologie zwischen der Annahme einer „Existenzschuld” (die, nach dem Verfasser, das Wesen des Menschen als radikal verderbt ansieht) und einer optimistischeren, die die Seinsbeschränkung und deren Konflikte nicht als „Schuld” ansieht, schwankt. Der Referent fragt sich, ob es nicht eine dritte Auffassung gäbe, die zwar eine „Existenzschuld” annehmen würde, aber deren Ueberwindung in der fortschreitenden Personalisation zumindest als Aufgabe zuließe. Etwa so: Da der Mensch auf das Unbegrenzte hin angelegt ist, wird die Begrenztheit als Abkehr vom Eigentlichen erlebt, läßt aber jeweils durch Weitung der existentiellen Bezüge neue Entscheidungen in immer höheren Ebenen zu. Die menschliche Entscheidung ist immer die Wiederholung — hic et nunc — der Frage Hamlets: Sein oder nicht sein?

Ein äußerst interessantes Gebiet am Rande unseres Themas berührt der Sammelband „Meditation in Religion und Psychotherapie”, herausgegeben von Wilhelm Bitter. Die Referate bieten eine Anzahl von Gesichtspunkten und Informationen, die einerseits einen anregenden Reichtum darstellen, anderseits aber noch langer kritischer Verarbeitung bedürfen, um psychotherapeutisch bewußt eingebaut zu werden. Die Meditation (und die Kontemplation) gehen dem gegenwärtigen Menschen — und dem Psychotherapeuten, der in der konkreten Geschichte wirkt — grausam ab, und wir sollen den Mitarbeitern des Buches dankbar sein, uns wenigstens auf die heute schwer zugängliche Ueberlief erung des Medi- tierens in Ost und West aufmerksam zu machen, wiewohl diese Tradition im Rahmen des Dargebotenen zunächst etwas widerspruchsvoll oder eklektisch erscheinen mag. Der Referent glaubt persönlich, daß zum Beispiel P. Gebhard Frei noch am ehesten einen für den Europäer gangbaren Weg aufweise, wenn er, wie bereits andernorts, über die Ueberlieferung des Ostkirchlichen Jesusgebetes (verbunden mit der „Hesychia”) referiert; auch will dem Referenten scheinen, daß die Zeit nicht gekommen istj(wird sie kommen?), uns an der fernöstlichen Mystik aus psychotherapeutischen Gründen teilhaben zu lassen, wohl aber schon eher an der ostkirchlichen, die eine Brücke zwischen den spezifischen Erfahrungen Westeuropas und des Fernen Ostens bietet.

Zu den von uns besprochenen Themen sind auch noch zwei wertvolle Jahrbücher zu nennen. Zunächst das in Freiburg erscheinende „Jahrbuch für Psychologie und Psychotherapie” — und wir denken hier ganz besonders an die Sondernummer 1958, die eine Festschrift zum 75. Geburtstag V. E. Freiherrn von Gebsattels darbietet. Zahlreiche Beiträge wären hier zu rezensieren. Es sei nur etwa auf den Artikel G ö r r e s’ und als Gegenpart auf den von Frankl hingewiesen. G ö r r e s zeigt klar und überzeugend, entgegeh F ranki, P’ä i t;’daß die Neurbsi” nichts mit der persönlichen Schuldhaftigkeit zu tun haben muß. F r an k 1 hingegen will die Person rein spiri- tualistisch verstehen, als Ort des Geistes allein — hiermit wäre aber jede Ambivalenz apersonal beziehungsweise wäre jeder Konflikt außerhalb der Person manichäisch hinausprojiziert. Auch andere Beiträge stehen mit dieser Problemstellung mittelbar oder unmittelbar in Zusammenhang. Wie es in Festschriften oftmals geschieht, kommt hingegen das eigentliche Werk des Jubilars am wenigsten zur Geltung.

Als anderes Jahrbuch wollen- wir das „Salzburger Jahrbuch für Philosophie und Psychologie” (11/58) erwähnen. Die gediegene wissenschaftliche Formulierung der Untersuchungen verleiht diesem Sammelwerk für das Grenzgebiet zwischen Philosophie und Psychologie eigene Bedeutung.

Man beendet die Lektüre dieser Bücher leicht verwirrt — wahrscheinlich besonders dann, wenn man selbst vom „Beruf” ist … Alle Autoren sagen Ausgezeichnetes, mitunter Großartiges, man kann sich aber des Eindrucks nicht erwehren, daß sie gleichsam aneinander vorbeisprechen. Einmal liegt es in der schillernden Paradoxie des Stoffes „Neurose und Verantwortung”, zum anderen in der manchmal geradlinigen, undialektischen Art, diesen Stoff zu analysieren.

Wahrlich eine schwierige Situation! Gewiß ist die Neurose keine Sünde (wie Görres es gegen den Referenten beweisen zu müssen glaubt)! Aber sie ist verfälschte Auseinandersetzung mit der Sünde, und das kompliziert die scheinbar kristallklare Aussage. Gewiß -ist die Tiefenpsychologie keine Ethik, aber sie ist die Wissenschaft vom Werden der bewußten Person und somit der sittlichen Person. Gewiß ist die Psychotherapie keine Lossprechung von Sünde, aber doch eine „Uebung”, eine „Askese” zur Selbstfindung und somit zur Ueberwindung sündhafter Entfremdungen …

Mit anderen Worten: Neurose und deren Wissenschaft sind beide Arten und Weisen des Bewußtwerdens der sündhaften Existenz … Und noch mit anderen Worten: Neurose und Tiefenpsychologie sind beide undenkbar außerhalb -.der Auseinandersetzung mit der eigenen Begrenzung, mit dem eigenen Konflikt, mit dem eigenen Widerspruch. Sie sind undenkbar außerhalb der Ambivalenz, außerhalb der Dialektik, worin das relativ Gute oder Indifferente dann mit fortschreitendem Personwerden zum relativ Schlechten, zum Aufgehobenen und Ueberholten wird; und umgekehrt; das Fremde wird integriert, auf eine neue Ebene gehoben.

Darum ist jede statische Betrachtung dieser ambivalenten Materie enttäuschend: sie greift ein Moment der Dialektik heraus und verabsolutiert es.

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