Die Retter der Lesekultur

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Harry Potter und andere neue Helden mit Humor, Klugheit und Fantasie haben bei den Jugendlichen endlich wieder ein regelrechtes Lesefieber ausgelöst.

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Harry Potter und andere neue Helden mit Humor, Klugheit und Fantasie haben bei den Jugendlichen endlich wieder ein regelrechtes Lesefieber ausgelöst.

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Realistische Bücher liest der 12-jährige Gymnasiast Felix Gruber am liebsten, besonders die Heldin im Buch "Wer stoppt Melanie Prosser?" von Aidan Chambers hat es ihm angetan. "Die Hauptfigur Melanie Prosser hat es nicht leicht, weil sie von einer Bande tyrannisiert wird", sagt Felix, Schüler der 3D-Klasse am Gymnasium Wien Albertgasse. "Aber es gelingt ihr, sich zu wehren. Das Buch ist so wirklichkeitsnah wie das Leben in der Schule, weil auch dort Kinder ausgespottet werden." Im Deutschunterricht in seiner Klasse wird viel gelesen. "Das ist schon toll", meint Felix. "Echte" Geschichten, aus dem normalen Leben gegriffen, sind seine Favoriten. Phantasiebücher wie "Harry Potter" gehören nicht unbedingt dazu.

Lesen im Zeitalter von Fernsehen und Internet? "Das Bild vom gemütlichen Dialog der Leser mit dem guten Buch oder der spannenden Zeitung im Lichtkegel der Nachtkastllampe ist eher in den Bereich der Idyllisierung abgerutscht", stellt dazu Gerhard Falschlehner, Geschäftsführer des Österreichischen Buchklubs der Jugend, fest. "Die Leserealität der Jugendlichen schaut heute viel nüchterner aus." Die Jugendlichen sehen zwischen Buch, Zeitschriften und elektronischen Medien keinen wertenden Unterschied und nützen alle Medien unbefangen nebeneinander, manchmal sogar gleichzeitig.

Aus deutschen und österreichischen Untersuchungen geht hervor, dass die Lesekompetenz der Kinder eher im Steigen als im Sinken begriffen ist. "Auch beim Leseverhalten verändert sich an der traditionellen Drittelgesellschaft sehr wenig", erklärt Falschlehner. Demnach gibt es ein Drittel der Kinder, das "gern, selbstständig und gut" liest, ein Drittel ist "skeptisch" - man spricht von den sogenannten "potentiellen Lesern" - ein Drittel hat Probleme mit der Lesetechnik und liest daher nicht gern. "Da gibt es eigentlich nur minimale Verschiebungen", so Falschlehner. "Durch das große Angebot an Neuen Medien wird die Lesezeit insgesamt natürlich geringer."

Das Leseverhalten selbst wandelt sich. "Die fiktionale Literatur geht zurück, dafür steigen Formen des informativen Lesens, also Sachliteratur", konstatiert Falschlehner. "Das, was Kinder in den Neuen Medien machen, also wenn sie das Internet oder CD-Roms nutzen, ist auch Lesen." Von einem "generellen Absinken der Lesebereitschaft oder -fähigkeit" könne man jedenfalls nicht sprechen.

Dicke Wälzer Wie bringt man Kinder dazu, am Lesen Gefallen zu finden? Hier sind erfolgreiche Ideen gefragt wie Harry Potter, die Phantasiegeschichten der britischen Autorin Joanne K. Rowling. "Das Harry Potter-Phänomen zeigt, dass man die Kinder nur richtig auf Literatur ansprechen muss", so Falschlehner. "Wenn man die Jugendlichen richtig erwischt, dann sind sie durchaus auch bereit, einen Harry Potter-Band, der 600 Seiten umfasst, zu lesen." Auch das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur stellt sich auf die neuen Anforderungen im Informationszeitalter im Bereich des Lesens gezielt ein. "Das digitale Medium, das in allen Bereichen eingesetzt wird, wird für den Bereich des Lesens stärker genützt werden", sagt Ministerialrat Johann Walter, Leiter des Referates Kulturvermittlung im Bundesministerium. "Im laufenden Schuljahr wird es ein Sonderprogramm ,Digitales Lesen' in Salzburg geben, wo für bestimmte Zielgruppen in erster Linie im Pflichtschulbereich Texte ins Netz gestellt werden." Demnach werden Lehrer über Lehrerfortbildungen zielgerecht geschult, wie sie das Leseverständnis testen können. Aber auch das Schreiben soll dadurch angeregt werden. "In der Steiermark wird es ein Sonderprojekt in Form eines Medienbusses geben, wo das Lesen in Kombination mit Autoren und digitalen Medien behandelt wird", so Walter. "Das Bildungsressort gibt für Leseförderung einen hohen Anteil seiner Förderungen aus, der eine Million Schilling übersteigt." Dabei gehe es um Standardprojekte wie etwa eine bundesweite Fortbildungstagung zum Bereich "Lesen und Medien". "Der zentrale Ausgangspunkt ist jedoch das Buch", sagt Walter.

Lesen? Was geschieht eigentlich dabei? "Lesen beginnt mit den Augen", schreibt Alberto Manguel in seinem Buch "Eine Geschichte des Lesens" (siehe Buchtipp). "Indem der Leser dem Text folgt, erschließt er dessen Bedeutung mit Hilfe eines vielfältig verknüpften Netzwerks aus erlernten Bedeutungen, sozialen Konventionen, früheren Lese- und Lebenserfahrungen und dem persönlichen Geschmack."

Alberto Manguel, 1948 in Buenos Aires geboren, wirkte in mehreren Ländern als Verlagslektor, Literaturdozent und Übersetzer und ist Herausgeber von Anthologien und Kurzgeschichten. "Eine Geschichte des Lesens" wurde mit dem Prix Medicis ausgezeichnet.

Historisches Beim Lesen spricht Manguel von einem "verwirrenden, labyrinthischen Reproduktionsprozess, der bei allen Menschen ähnlich verläuft, aber doch einen höchst persönlichen Charakter behält." Die Aufgabe des Lesenden bestehe darin, "sichtbar zu machen, was die Schrift nur in Andeutungen und Schatten zu nennen weiß." Alberto Manguel geht in seinem Buch den historischen Stationen in der Entwicklung des Lesens einfühlsam auf den Grund: von der Leseschule des Augustinus, dem sogenannten "Bilderlesen", den Lateinschulen der scholastischen Methode des Mittelalters bis hin zum "öffentlichen Vorlesen" im Frankreich des 18. Jahrhunderts und den Lesegewohnheiten der Gegenwart.

Alberto Manguel spürt in "Eine Geschichte des Lesens" auch dem Mythos der weltberühmten Bibliothek von Alexandria nach. Die Bibliothek erhob den Anspruch, das gesamte Wissen der Menschheit zu umschließen. Man schätzte, dass die Bibliothek annähernd eine Million Rollen umfasste. Die alexandrinische Bibliothek mit ihren Katalogen wurde das Vorbild für die ersten Bibliotheken des römischen Kaiserreichs.

Wie lasen Charles Dickens und Rainer Maria Rilke? Alberto Manguel führt den Leser in die Lesewelt berühmter Schriftsteller. Manguel zitiert hier Franz Kafka. "Das Buch kann die Welt nicht ersetzen. Das ist unmöglich. Im Leben hat alles seinen Sinn und seine Aufgabe, die von etwas anderem nicht restlos erfüllt werden kann", so Kafka. "Man versucht das Leben in Büchern wie Singvögel in Käfige einzusperren. Doch das gelingt nicht." Vielmehr enthalten Bücher wertvolle Ansätze für die Leser, denn Menschen sind - so Alberto Manguel - auch "Bücher, die gelesen werden wollen". Leser und Buch werden eins. Manguel: "Die Welt als Buch wird verschlungen vom Leser, der ein Buchstabe im Text der Welt ist."

Eine Geschichte des Lesens Von Alberto Manguel: Rowohlt Verlag, 428 Seiten, öS 196,90/e 14,31

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