Die Schweigemauern

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Tabus sichern seit jeher die Grenzen um heilige oder gefährliche Gebiete. Solchen Zonen darf sich niemand nähern, man spricht nicht einmal darüber ... Solche Tabus, die Grenzen ziehen, gibt es auch in den Familien .

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Tabus sichern seit jeher die Grenzen um heilige oder gefährliche Gebiete. Solchen Zonen darf sich niemand nähern, man spricht nicht einmal darüber ... Solche Tabus, die Grenzen ziehen, gibt es auch in den Familien .

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Jahrelang lebte er im Hause seiner Eltern, aß auch regelmäßig mit ihnen zu Mittag - und doch fand so gut wie keine Kommunikation unter den anwesenden Menschen statt. Weder Vater noch Mutter oder sonst irgendjemand wußte, was in den Räumen nebenan vor sich ging, niemand durfte diese betreten, es wurden auch keine Fragen gestellt. Auch wenn die österreichische Öffentlichkeit über die Festnahme von Franz Fuchs, dem "Bombenhirn" erleichtert war, so irritierten dochbesonders die seltsamen Familienverhältnisse. Wochenlang wurde in den Medien gerätselt, welchen Anteil an der augenscheinlichen Sozialphobie des ausschließlich chemie- und physikinteressierten Sohnes wohl die Eltern hätten.

Als sich diese schließlich "der Öffentlichkeit" stellten (in der Talkshow "Vera"), begegnete man zwei unbeholfenen alten Leuten, begleitet von einem offensichtlich wohlgeratenen zweiten Sohn, die aber allesamt nichts Aufklärendes zu sagen hatten.

Gewaltverzicht Rotraud A. Perner, Juristin, Sozialforscherin und Sexualtherapeutin, kennt aus ihrer mehr als dreißigjährigen Praxis viele Eltern, die es irgendwann einmal aufgegeben haben, Sohn oder Tochter aufzufordern, sich an die Ordnungsspielregeln der Familie zu halten. Die es vermeiden, in die diversen Wohnräume der Söhne beziehungsweise Töchter hineinzuschauen oder hineinzugehen. Sie weiß von vielen Ehemännern, die ihre Gattinnen aus dem Arbeitszimmer jagen, und nächtelang in ihre Computerwelt oder ins Internet entschweben.

Solche "Tabu"-Zonen können auch diverse Bastelräume, Werkstätten oder Garagen sein. Nicht immer ist also Alkohol der verborgene Gefährte einsamer Stunden. Perner kennt vielerlei Hintergründe für diese "Emigrationen". Fast immer unterliegen diese aber einem Schweigegebot sowie einem Wahrnehmungs- und einem Redetabu.

Perner definiert die Wurzel für eine mangelnde demokratische Struktur vieler Familien in einem Fehlen von Vorbildern für partnerschaftliche und emanzipatorische Kommunikation. An Vorbildern für Kritik, Strafe und Herrschaft mangle es hingegen keinesfalls.

Ihrer Meinung nach wäre es eine der vordringlichsten Erziehungsaufgaben einer wirklich fürsorgenden Familie, Modelle zu zeigen, wie man gewaltfrei mit selbst erlebten, selbst zugefügten Verletzungen, mit Vertragsbrüchen, Gewalt oder mit Machtmißbrauch umgehen kann. Erste Aufgabe der Selbsterziehung wäre es demnach, selbst zu einem Modell für Gewaltverzicht zu werden.

Tabus in Familien ziehen Grenzen, um die Familie als Ganzes oder Einzelnes zu schützen. Sie verhindern damit Nähe, Vertrautheit, Wohlempfinden und Glück, indem sie ein hierarchisches System von Eingeweihten schaffen, die bestimmen, und Ausgeschlossenen, über die bestimmt wird. So entsteht Über- und Unterordnung.

Dieser "Geist" von Über- und Unterordnung "geistert" auch heute noch durch manche Amtsstuben und -formulare und steht damit im Gegensatz zu den Innovationen, mit denen die Gesetzgebung den veränderten Lebenswirklichkeiten entsprechen will, nämlich einer Wirtschaftswelt, die nicht mehr auf die sozialen Qualifikationen, die Kreativität und die Flexibilität von Frauen verzichten will, und in der gleichzeitig immer mehr Männer die Anpassung an zunehmende Leistungsanforderungen verweigern.

Sprachlosigkeit Die Autorin beleuchtet die vielfältigen Ausformungen der Institution Familie und die Art in der dort kommuniziert wird. Daß Sprachlosigkeit innerhalb vieler Familien die Regel ist, daß andere Durchsetzungsstrategien und eine ungerechte beziehungsweise ungerechtfertigte Machtverteilung schuld am Scheitern familiärer und partnerschaftlicher Beziehungen ist, wird anhand von vielen Fallbeispielen erläutert.

Familie ist und bleibt auch "Berührungsgemeinschaft". Familienangehörige dürfen einander viel näher stehen oder treten als Fremde. Daß ein Mangel an körperlicher Nähe Kinder ebenso massiv in ihrer Entwicklung beeinträchtigt wie das Gegenteil, nämlich ihnen mit Gewalttaten zu nahe zu treten, ist heute ja dank medialer Aufklärung hinlänglich bekannt.

Sinn und Unsinn verschiedener "Tabus" wird mit einer Reihe von Begriffen in Zusammenhang gesetzt und hinterfragt. So lauten die Kapitel unter anderem: Das Tabu der Entidealisierung der Familie, das Tabu der Realitätssicht, das Tabu der Machtlosigkeit, Tabu der Lebendigkeit, die "letzten" Tabus, Tabubrüche, und im letzten Kapitel die "Enttabuisierung". Die Vielfalt von Betrachtungsweisen machen das Buch zu einem an Informationen sehr dichten Werk über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten sprachlicher Kommunikation.

Mit dem Gebot "Darüber spricht man nicht" wird in vielen Familien verhindert, einander nahe zu kommen und beistehen zu können. Das unterdrückte Sprachbedürfnis kehrt jedoch wie alles Verdrängte in irgend einer Form wieder, heute sogar in Talkshows. Warum sprechen Menschen über Tabuthemen in Fernsehstudios, nicht aber in der Familie, also mit den Menschen, die es wirklich angeht?

Rotraud Perner versucht Denkanstöße zu geben, wie man die richtigen Worte für Mitteilungen finden kann, wie Kommunikation in Familien besser werden kann. Die Autorin versucht auch aufzuzeigen, welche Tabus hinter den Tabus liegen, und wer jeweils ein Interesse daran haben könnte. daß es bei "Sprechverboten" bleibt. Perner versucht auch Wege zu beschreiben, die es ermöglichen, von herrschenden "Sprechverboten" wegzukommen.

Buchtip: "Darüber spricht man nicht". Tabus in der Familie. Das Schweigen durchbrechen Von Rotraud A. Perner.Kösel Verlag ,231 Seiten, öS 238,-/e 17,25

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