Die Trennlinien unserer Gesellschaft

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Vor etwas die Augen zu verschließen, bedeutet, dass man es nicht mehr sieht. Es bedeutet nicht, dass die Sache dann verschwunden ist. Genau so verhält es sich mit den jetzt ständig klarer erkennbaren Trennlinien, die unsere Gesellschaft durchziehen. Sie gewinnen in Zeiten der Krise an Schärfe, an Kontur, an Wirkung. Trennlinien, an denen entlang Mauern errichtet werden. Eine gefährliche, eine brisante, eine unterschätzt Entwicklung.

Prekariat - alles ist ungewiss

Die wesentliche Trennlinie unterscheidet jene Menschen, die im System drinnen sind, von jenen, die außen vor bleiben. Drinnen sind die, die feste Arbeit haben, allgemeine Bildung und etwas an Eigentum. Diese einigermaßen breite Schicht, die ihre Existenz dem Wirtschaftswachstum verdankt, gerät unter Druck. Sie vermeint, stets mehr leisten zu müssen, um lediglich zu erhalten, was sie sich als Standard schon erarbeitet hat. Das ist einstweilen vor allem ihre subjektive Wahrnehmung, bald ist es jedoch objektivierbarer Befund. Außen vor sind jene, die als neues Prekariat - gekennzeichnet durch in jeglicher Hinsicht missliche und unzulängliche Verhältnisse - eine neue Schicht unterhalb des Proletariats darstellen. An deren Lage ist alles ungewiss. Die Arbeit ist unsicher, das Entgelt jedenfalls zu niedrig, die Bildung nicht ausreichend, Eigentum nicht vorhanden. Unter solchen Verhältnissen sind zudem familiäre und soziale Beziehungen in ihrem Bestand gefährdet, denn Not streitet und macht erst in zweiter Linie erfinderisch.

Sozialstaat im Stresstest

Der Sozialstaat stellt noch Ausgleich her, aber es könnte sein, dass er das nicht mehr lange im gewohnten Ausmaß schafft. Der Wohlfahrtsstaat ist ein steuerfinanzierter Staat, und genau daran gebricht es. Mit stagnierenden Einkommen, schwindender Kauflust und rückläufigen Geschäftsumsätzen sinken die Steuereinnahmen. Doch genau davon bräuchte der Staat mehr, denn er benötigt Geld. Namentlich die stete Zunahme der Anzahl pensionierter oder arbeitsloser Personen lässt den staatlichen Zuschuss zu deren Kassen steigen. Das wird sich nicht lange ausgehen. Daher gibt es unter den für öffentliche Etats Verantwortlichen noch niemanden, der das bisherige Ausbleiben der von der Bundesregierung neuerlich in Aussicht gestellten Mindestsicherung laut und deutlich bedauert hätte. Es mangelt schon auch an der politischen Einigung der Länder und des Bundes, doch vor allem fehlt es an Geld, die Mindestsicherung zu finanzieren. Der Sozialstaat schlittert in den Stresstest. An diesem Punkt kommt man zum Kern der gegenwärtigen Malaise.

Ohne Hoffnung entsteht Unruhe

Jegliche Gemeinschaft oder Gesellschaft bedarf des Zusammenhalts, der Übereinstimmung aller Einzelnen mit dem Ganzen. Dies ergibt sich aus dem Vertrauen jedes Einzelnen in drei grundlegende innere Bedingungen eben dieser Gesellschaft: Sie hilft dem unverschuldet in Not Geratenen, sie garantiert einen gerechten sozialen Ausgleich und sie sorgt für Chancen. Nun bekommen einige dieser Grundfesten erste Risse.

Die Hilfe, daran besteht kein Zweifel, funktioniert. Doch der soziale Ausgleich, wo bleibt er? Die Einkommensschere geht auf, die Vermögensverteilung geht auseinander, die Mindestsicherung fehlt. Hier wurden Unterschiede zuletzt eher vergrößert als ausgeglichen. Und die Chancen? Wie steht es um jene der Jungen, der Zugewanderten, der in prekären Verhältnissen Steckenden? Unser Schulwesen verstärkt deren Aussicht auf Aufstieg nicht in erforderlichem Ausmaß. Der Arbeitsmarkt ist hart umkämpft, aber doch keineswegs das große weite Feld der Chancen und Gewinne, die lediglich der mutig Entschlossenen harren.

Die beiden klassischen Mittel, sozialen Frieden zu gewährleisten - das sozialistische der Umverteilung, das kapitalistische der Gewinnchancen - haben sich in Zeiten der Krise etwas erschöpft. Daher ziehen sich schärfere Trennlinien durch unsere Gesellschaft. Diese ist in ihren Möglichkeiten noch keineswegs am Ende, ganz im Gegenteil. Aber sie muss reale Möglichkeiten des Ausgleichs und des Aufstiegs anbieten, sie muss die entlang der Trennlinien errichten Barrieren einreißen, ehe dort Unruhe entsteht.

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